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Das Krähenweib

Das Krähenweib

Titel: Das Krähenweib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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Männer sahen ihr ins Gesicht oder bewunderten ihr Haar, doch meist senkten sie ihren Blick gleich wieder und widmeten sich weiter ihren Gesprächen.
    Bevor sich Annalena entschließen konnte, einen der Vorübergehenden anzusprechen, ertönte ein lautes Krachen. Eine Kutsche war mit einem Händlerkarren zusammengeprallt. Während die Kutscher begannen, aufeinander einzuschimpfen, entdeckte Annalena etwas, das ihr das Blut gefrieren ließ.
    Ein Kind war unter eine der Kutschen geraten.
    Die Fuhrleute bemerkten es nicht, und auch die Umstehenden blickten nur auf die Wagen und die beiden Streithähne. Der Junge lag neben einem der Räder und seine Kleider färbten sich bereits rot.
    Annalena trieb ihr Pferd an und verschaffte sich durch seinen massigen Leib den nötigen Platz. Die Leute sprangen erschrocken zur Seite, wieder hagelte es Flüche. Bei den Wagen angekommen sprang sie vom Pferd und kroch, ohne dass die Wagenlenker es mitbekamen, unter das umgestürzte Gefährt.
    »Kleiner, kannst du mich hören?«, fragte sie, doch der Junge antwortete nicht. Der Schmerz musste ihm das Bewusstsein genommen haben. Annalena tastete nach seiner Brust und spürte erleichtert, dass das Herz noch schlug.
    »Ä Kind!«, kreischte plötzlich eine Frauenstimme. »Under dem Waachn is ä Kind!«
    Annalena hörte nicht darauf und zog den Jungen unter dem Wagen hervor. Soweit sie es erkennen konnte, war das größte Problem eine große Wunde am Oberschenkel, die kräftig blutete.
    Von ihrem Vater wusste sie, dass die Adern an den Beinen sehr groß waren und man in kurzer Zeit verbluten konnte, wenn keine Aderpresse angelegt wurde.
    Nur ein einziges Mal hatte sie in Walsrode solch eine Behandlung durchgeführt, an einem Mann, der sich an einer gesplitterten Wagendeichsel verletzt hatte. Der Körper eines Kindes unterschied sich nicht wesentlich von dem eines Erwachsenen, nur war er kleiner und die Menge des Blutes, das die Adern führten, wesentlich geringer. Sie musste sich also beeilen. Andere Leute liefen herbei, Rufe nach dem Chirurgus wurden laut.
    Angebote, ihr zu helfen, schlug Annalena aus und vertrieb entschlossen alle Leute, die versuchten, ihr den Jungen zu entreißen. »Ich weiß, was ich tue! Geht weg, sonst stirbt er!«
    Keine Unsicherheit war in ihrer Stimme, und es war ihr auch egal, wen sie anschnauzte. Alles, was zählte, war das Kind vor ihr. Flink riss sie sich ein Stück vom mürbe gewordenen Rocksaum ab, dann griff sie nach einem Stück Holz, das von dem Kutschenrad abgebrochen war. Wie es ihr Vater ihr einst gezeigt hatte, legte sie damit eine Aderpresse.
    »Martin!«, brüllte plötzlich eine Stimme, doch Annalena kümmerte sich nicht darum. Sie zog den Stoff so straff sie nur konnte und verknotete ihn dann. Der Blutfluss ebbte sofort ab, dennoch war das Gesicht des Jungen sehr weiß, weißer, als es hätte sein dürfen. Bevor Annalenas Hand seine Wangen erreichen konnte, wurde sie hart zurückgerissen.
    »Was machst du mit meinem Sohn?«, fuhr sie ein wütender Mann an. Seine Perücke hing ihm schief vom Kopf und in seinen Augen glänzte Zorn.
    »Ich habe ihm eine Aderpresse gelegt«, antwortete sie ruhig. »Er war unter einen der Kutschwagen gekommen, wie die Leute hier bezeugen können. Ich wollte ihm nur helfen.«
    Der Mund des Mannes öffnete sich, wahrscheinlich um eine Schimpftirade loszulassen, aber dann fiel sein Blick auf seinen Sohn, auf die Blutlache unter ihm und auch auf den Verband, der den Blutfluss offensichtlich gestoppt hatte. Er klappte den Mund wieder zu.
    »Bringt ihn am besten schnell zu einem Medikus«, sagte Annalena und hob den Jungen auf ihre Arme. Er war vielleicht acht Jahre alt und schwer für ihre dünnen Arme, aber sie brauchte ihn nur einen kurzen Moment zu halten, dann übernahm ihn der Vater, der noch immer sprachlos war.
    »Sag mir deinen Namen«, brachte er schließlich hervor.
    »Annalena«, antwortete sie und verzichtete darauf, ihren Nachnamen zu nennen. »Wo kann ich Euch finden, um nach dem Jungen zu sehen?«
    »Ich heiße Tilman Heinrich und wohne in der Scheffelgasse.« Mehr sagte er nicht, sondern lief los, seinen ohnmächtigen Sohn auf den Armen.
    Annalena blickte ihm nach und spürte die Blicke der Leute auf sich. Hinter ihr machten sich ein paar Männer daran, das umgekippte Fuhrwerk wieder aufzurichten, doch dafür schienen die Umstehenden kein Interesse zu hegen.
    Als Annalena den Mann aus den Augen verlor, blickte sie an sich hinab und sah, dass ihre Kleider und

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