Das Krähenweib
auch ehrlich mit dir sein. Eigentlich brauche ich keinen neuen Knecht, doch in der Abdeckerei gibt es immer Arbeit, da würde eine zusätzliche Hand nicht schaden. Ich stelle dich für drei Monate auf Probe ein. Hast du dich bis dahin bewährt, darfst du bleiben.«
Drei Monate waren nicht viel, aber auch nicht wenig. Drei Monate bedeuteten jetzt, im beginnenden November, dass er über das Jahr kommen würde und vielleicht auch über den Winter. Dies war das Beste, was er kriegen konnte, also schlug er ein.
Annalena erreichte das Landgut von Johann Kunckel in den frühen Abendstunden. Es war ein prächtiges Anwesen, die weißgetünchten Wände des Hauses strahlten trotz der beginnenden Dunkelheit und erste Lichter flammten hinter den hohen Glasfenstern auf. Schon bald würden diese Lichtpunkte das Einzige sein, was einen Reisenden in der Dunkelheit zu diesem abgelegenen Gut führen konnte. Ob viele Leute hierherkamen, wusste Annalena nicht, aber sie war froh, es gefunden zu haben.
Sie preschte durch das hoch aufragende Tor und brachte das Pferd auf dem Hof zum Stehen. Hundegebell wurde laut und weil sie fürchtete, dass sich eine mit scharfen Zähnen bewehrte Bestie gleich auf sie stürzen würde, blieb sie lieber noch einen Moment im Sattel. Doch die Tiere tauchten nicht auf, und als sie wenig später hörte, dass sie sich wütend gegen die Gitterstäbe eines Zwingers warfen, stieg Annalena ab.
Da öffnete sich auch schon die Haustür und zwei Männer kamen ihr entgegen. Sie mussten Diener sein, wenn es nach den langschößigen Röcken ging, die sie trugen.
»Was wollt Ihr hier?«, fragte einer von ihnen und hielt ihr eine rußende Öllampe entgegen, um ihr Gesicht besser sehen zu können.
»Ich möchte den wohlgeborenen Herrn Kunckel sprechen. Ich habe eine wichtige Botschaft für ihn.«
Die beiden Männer musterten sie von Kopf bis Fuß. Annalena raffte den Umhang zusammen, damit sie das getrocknete Blut des Jungen nicht gleich sahen. »Welche Botschaft könntet Ihr schon für unseren Herrn haben?«
»Eine sehr wichtige, doch ich musste versprechen, dass ich sie nur Herrn Kunckel offenbare.« Annalena spürte Unsicherheit in sich aufsteigen, denn sie wusste, sie sah nicht besser als eine dahergelaufene Bettlerin aus, aber sie hatte nicht vor, sich fortschicken zu lassen. Johanns Wohl hing davon ab! Sie atmete tief durch und fügte dann mit fester Stimme hinzu: »Also, ist er da oder nicht?«
Die letzten Worte klangen schärfer, als sie beabsichtigt hatte, doch sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Die beiden Diener blickten sich an, dann sagte der ältere zu dem jüngeren: »Geh du rein und sag unserem Herrn Bescheid. Ich passe auf sie auf.«
Als ob ich etwas stehlen würde, dachte Annalena, setzte aber ein Lächeln auf, damit der Diener keinen noch schlechteren Eindruck von ihr bekam.
Der jüngere Diener verschwand wie geheißen in der Tür, während der ältere Annalena nicht aus den Augen ließ. »Woher kommt Ihr?«, fragte er nach einer Weile.
»Aus Wittenberg«, antwortete sie.
»Dann hat Euch wohl ein Studiosus geschickt. Oder vielleicht ein Professor?«
»Das ist eine Sache, die ich nur Herrn Kunckel mitteile, wie es mir aufgetragen wurde.«
Bevor ihr der alte Mann mit weiteren Fragen auf den Leib rücken konnte, erschien der jüngere Diener wieder. Sein Herr hatte offenbar nicht lange für eine Entscheidung gebraucht.
»Unser Herr ist bereit, Euch zu empfangen«, sagte er, und beinahe schien sein Dienstgenosse enttäuscht darüber zu sein.
Annalena kümmerte sich jedoch nicht um ihn und folgte dem Diener ins Haus. Hatte sie das Äußere bereits prachtvoll gefunden, so wurde sie von der Opulenz der Innenräume überwältigt. Ein großer Lüster aus Hirschgeweihen hing von der getäfelten Decke herab, goldgerahmte Bilder zeigten Personen und Landschaften und auch die eine oder andere frivole Szene.
Zeit zum genaueren Betrachten hatte sie jedoch nicht, denn der junge Diener drängte zur Eile. »Mein Herr hat sein Laboratorium für Euch verlassen. Ihr tätet gut daran, Euch mit Eurem Anliegen zu beeilen, da er es nicht schätzt, Zeit zu verlieren.«
Dann ist er wohl wirklich der Richtige, um Johann aus dem Turm in Wittenberg zu holen, dachte Annalena und folgte dem Diener durch einen langen Korridor bis zu einer Tür. Hinter dieser befand sich ein Raum, den man wohl einen Jagdsalon nannte. Zahlreiche Trophäen hingen an den Wänden und starrten mit toten Augen auf die Hereinkommenden.
In der
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