Das Krähenweib
anzufühlen, als hätte Mertens sie in der Nacht besucht.
Diese Gedanken hatten sie den ganzen Morgen verfolgt und ließen Annalena auch jetzt frösteln, doch hier draußen, auf Dresdens Straßen, konnte sie sich ablenken, indem sie sich die Leute ansah und nach der von der Gesellschafterin genannten Adresse suchte. Der Neumarkt war voller Menschen, und mittlerweile war ihr die Art, wie die Leute sprachen, vertraut. Sie schnappte einige Gesprächsfetzen auf, in denen es um den Kurfürsten ging und um die Mode am Hof, die Steuern und den Krieg mit Schweden. Einige junge Burschen zwinkerten ihr zu, einige Männer grüßten sie und Frauen, deren Kleider einfacher waren, betrachteten sie mit neidischen Mienen. Wie sehr sich ihr Leben doch verändert hatte, seit sie aus Walsrode geflüchtet war.
Ganz plötzlich überfiel Annalena das Gefühl, beobachtet zu werden, wie eine kalte Hand, die ihr über den Nacken strich. Sie blieb stehen und blickte sich um, doch in der Menge der Leute, die sie umringte, konnte sie niemanden ausmachen, der sie gezielt beobachtete. Alle schienen sie für einen Moment anzusehen und dann wieder wegzuschauen, und jetzt, da sie sich umgewandt hatte, ließ auch das Gefühl wieder nach. Doch als sie in eine Gasse einbog, kehrte es mit Macht zurück.
Annalena lief schneller. Auch in der Gasse kamen ihr noch immer Passanten entgegen, was sie eigentlich hätte beruhigen sollen, denn niemand, der es auf sie abgesehen hatte, würde sie vor Zeugen angreifen. Wurde sie wirklich verfolgt oder war alles nur ein Hirngespinst? Annalena sah sich um – wieder niemand – und schüttelte schließlich den Kopf über die eigene Torheit. Doch das mulmige Gefühl ließ sich nicht abschütteln.
Endlich am Geschäft des Monsieur Dinglinger angekommen, stürmte sie geradezu zur Tür herein. Der Laden wirkte nicht so, als gehöre er einem Goldschmied, wenn überhaupt, war das einzig Kostbare hier ein goldgerahmter Spiegel, der das Bild der Inneneinrichtung, und nun auch Annalenas, zurückwarf. Im Hintergrund konnte man es leise hämmern hören. Auch hier erwartete sie ein Bursche, der allerdings viel jünger war als der Gehilfe des Schneiders. Er blickte sie einen Moment lang mit großen Augen an, aber noch bevor sie ihm erklären konnte, was sie hier wollte, erschien der Hausherr.
Monsieur Dinglinger war ein stattlicher Mann mit Schnurrbart und braunen Locken, der einen kostbaren, mit Zobel besetzten Mantel trug. Er musterte Annalena von Kopf bis Fuß, dann fragte er, was ihr Begehr sei. Es war ihm klar, dass sie von irgendeiner Herrschaft geschickt worden war.
»Dich schickt also die Kammerfrau der Mätresse«, sagte er, nachdem sie ihm das Schreiben überreicht hatte.
Annalena nickte.
Der Mann studierte das Schreiben kurz und verschwand dann mit einem nicht zu deutenden Brummen im Hinterzimmer. Wenig später kehrte er mit einem kleinen Päckchen zurück. »Geh ja vorsichtig damit um!«, mahnte er Annalena, als er es ihr aushändigte. »Wenn du es verliert, musst du es ersetzen!«
»Ich werde aufpassen«, entgegnete Annalena und verstaute das Päckchen in der Tasche ihrer Schürze.
Der beleibte Juwelier nickte und trug ihr auf, der Gesellschafterin auszurichten, dass er sich so schnell wie möglich um ihren Wunsch kümmern werde, dann entließ er Annalena wieder in die Winterkälte. Vor dem Haus blieb sie stehen und sah sich nach allen Seiten um. Noch immer eilten Menschen vorbei, aber keiner schien sie besonders zu beachten.
Sie war gerade in die Schösser-Gasse eingebogen, als sie plötzlich von einem Arm gepackt und zur Seite gezogen wurde. Annalena wollte schreien, doch eine Hand legte sich auf ihren Mund, und ehe sie auch nur zu einem Schlag ausholen konnte, fand sie sich in einem kleinen Hinterhof wieder. Dort warteten bereits zwei andere Männer. Hatten sie es auf das Päckchen abgesehen, das sie vom Dinglinger erhalten hatte?
Annalena versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff des Mannes zu winden, doch ihre Gegenwehr erstarb schlagartig, so überrascht war sie, als sie einen der beiden Männer erkannte.
Der Kaufmann Röber trat aus einer Nische hervor, während der andere Mann seinen Dolch zückte, einen Hirschfänger, mit dem er sie mühelos durchbohren konnte. Der Mann hinter ihr ließ sie nun los, nur um sie im nächsten Moment hart gegen die Wand zu schleudern. Ihr Kopf schlug gegen die Steine und machte sie benommen, doch das Gefühl des Messers an ihrer Kehle ließ sie sofort wieder zu
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