Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Korb, als sie sich zu ihrer Großmutter auf den Weg machte?“ grübelte Erik, aber er war sich nicht mehr sicher. Zu lange war es her, daß seine eigene Großmutter ihm diese Grimmschen Märchen erzählt oder vorgelesen hatte. Er war damals noch ein kleiner Junge gewesen. Aber er dachte noch heute gerne an diese schöne, glückliche Zeit und an seine Großmutter, die er leider schon als Zwölfjähriger verloren hatte.
Er stand auf einmal direkt vor ihr, blickte geradewegs in ihre wunderschönen, blauen Augen, konnte fast ihren Atem spüren, so nah wurden die Menschen infolge ihrer großen Zahl und des schmalen Ganges, der zu den Aufbauten führte, aneinandergedrängt. Auf ihrem Antlitz zeigte sich wieder jenes unwiderstehliche Lächeln und sie grüßte Erik freundlich, indem sie ihre zarte rechte Hand etwas hob, so als wolle sie die Geste nur andeuten, und mit sanfter Stimme sprach: „Good afternoon, stranger!“ Er fühlte sein Herz bis zum Halse schlagen und hätte wohl trotzdem am liebsten in dieser Stellung verweilt, ging aber wider Willen, so schnell es ihm möglich war, weiter, nickte nur mit dem Kopf und preßte ein schlichtes und ziemlich dämliches „Hallo, auch Essen fassen gewesen?“ heraus, für das er sich sogleich schämte. Es stand in keinem Verhältnis zu den Gefühlen, die er für das Mädchen empfand, obschon er es kaum kannte. Es war auch nicht das, was er sich in den letzten Nächten vor dem Einschlafen zusammengereimt hatte – für den Fall einer abermaligen Begegnung. Außerdem war die scheinbare Frage gar keine Frage, sondern ein dämliches Geplapper, denn es war augenscheinlich und stand somit außer Zweifel, daß sie auch Proviant gefaßt hatte… Sie mußte annehmen, daß er es sagte, weil er ihr nichts anderes zu sagen habe, dabei hätte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein können als diese falsche Annahme, dieser Trugschluß, an dem er allein die Schuld trug. „Aber hoppla, nicht so eitel, Junge!“ ertappte sich Erik. „Die wird sich überhaupt keine Gedanken machen. Wer sagt denn, daß sie überhaupt auch nur eine Sekunde an mich gedacht hat, seit wir uns vor Tagen zufällig über den Weg gelaufen sind.“ Er redete sich ein, sie habe ihn eben nur aus Höflichkeit gegrüßt, weiter nichts.
Als er sich noch einmal umdrehte, sah er das Mädchen noch an derselben Stelle stehen, das Körbchen unter dem Arm und den Blick aufs Meer gerichtet. Sie strich sich das Haar mit der Rechten anmutig hinters Ohr und warf, wie sie es tat, einen verstohlenen Blick nach ihm, doch als sie gewahrte, daß auch er zu ihr hinübersah, wendete sie sich sogleich wieder ab und senkte den Kopf zur Seite, so als sei sie in tiefes Grübeln versunken, oder als schäme sie sich für etwas. Auch Erik kehrte sich darauf um und ging weiter seiner Wege, doch seine Höflichkeitstheorie geriet ins Wanken. „Sie hat mir nachgeschaut und sich dabei ans Ohr gefaßt“, rekapitulierte Erik das eben Erlebte. Er war sich sicher, daß diese Verhaltensweise, diese Gestik, eine tiefere Bedeutung habe, denn das hatte er wiederholt gehört, obwohl er nicht mehr genau wußte, von wem. Auch konnte er nicht mit Bestimmtheit angeben, was diese Handlung nun explizit bedeutete. Allein, es mußte eine positive Bedeutung sein, dessen zumindest war er sich gewiß. Je länger er darüber nachsann, desto größere Hoffnungen machte er sich, nur um sie dann nach dem Abendessen wieder zu begraben, „denn“, so sagte er sich nach reiflicher Überlegung und logischer Herangehensweise an den Gegenstand, „hätte ich lange Haare, so würde ich sie mir vermutlich auch aus dem Gesicht und hinter die Ohren schieben, um freie Sicht zu haben“. Mit dieser neugewonnenen Erkenntnis legte er sich schlafen.
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Scarlett, der es an diesem Morgen oblag, den Frühstückstisch der Familie Strafford zu decken, schritt mit drei Tellern und allerhand Besteck zielstrebig auf das kleine Tischlein inmitten der provisorischen Behausung zu, das sie auch bald erreicht hätte – allein, eine Schwelle oder vielmehr eine Verstrebung des Containers, welche sie in ihrer verträumten Geistesabwesenheit übersah, hinderte sie daran. Sie kam ins Stolpern und strauchelte, wobei ihr die Teller und das Besteck aus den Händen glitten. Zwar fiel sie nicht der Länge nach hin wie ein Sack Kartoffeln, sondern konnte sich glücklicherweise noch rechtzeitig auf ihre zierlichen Arme stützen, welche die bescheidene Last leicht ausbalancierten, doch um das
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