Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
abgeklemmt hatte, entfernte er diesen schließlich und versenkte den verbleibenden Stumpf vermittelst einer sogenannten Tabaksbeutelnaht, die er im Anschluß nochmals mit einer zweiten Naht verwob. Danach wurde die Bauchdecke wieder schichtweise verschlossen und die Hautwunde geklammert. Der Eingriff war vorüber und hatte im ganzen weniger als zwanzig Minuten gedauert.
Luise Bühler würde noch bis zum nächsten Nachmittag oder Abend auf der Liege im Krankenzimmer bleiben, entschied MacGregor, dann könne sie wieder in ihren Wohncontainer. Sie hatte aber für die kommenden Tage absolute Bettruhe einzuhalten. Am ersten Tag nach der Operation sei Essen tabu, schärfte er Martin Bühler ein, der vor dem Krankenzimmer gewartet hatte und nun überglücklich war, daß es bei dem Eingriff keine Komplikationen gegeben hatte und seine Frau den Umständen entsprechend wohlauf war. Der Arzt versprach, in der nächsten Zeit regelmäßig bei den Bühlers vorbeizuschauen, ihnen Hausbesuche abzustatten, wenn man so wollte, um den Heilungsprozeß zu beurteilen und die Patientin auf dem Weg ihrer Genesung zu begleiten.
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Drei Tage waren seit der Notoperation von Luise Bühler vergangen. Sie fühlte sich schon merklich besser. Erik fiel ein Mühlstein vom Herzen, der schwer auf ihm gelastet hatte. Allein ein anderer Stein, an dem er auch zu tragen hatte, machte sich nun wieder stärker bemerkbar, ja verschaffte sich jetzt, da er ohne Rivalen war, mit aller Gewalt Geltung. Erik dachte nun wieder ständig an das zufällige Zusammentreffen mit diesem schönen, blonden Mädchen, dessen Lächeln sein Herz im Sturm erobert und dessen klare, blaue Augen ihn offensichtlich verzaubert hatten, dessen Namen er jedoch nicht einmal kannte. „Was ist es, was mich so fesselt?“ fragte er sich immerzu. „Ist es nur ihr Äußeres? Ich habe ja kaum ein Wort mit ihr gewechselt.“ Er fand, daß es nicht nur ihre anmutigen Bewegungen, ihr reizvolles Lächeln, ihre weiblichen Rundungen, ihre ganze entzückende Erscheinung sein konnten, die ihn so in ihren Bann zogen. Es mußte mehr sein, weit mehr. „Sie hat so einen unwahrscheinlich aufrichtigen Blick, das muß es sein!“ sinnierte er. Erik traute – mit Ausnahme seiner Mutter – im Grunde keiner Frau mehr über den Weg, seit er wiederholt Schiffbruch in dieser Sache erlitten hatte. Zwei herbe Enttäuschungen nagten noch an ihm. Doch bei diesem Mädchen wäre es anders, das fühlte er.
Der junge Mann war überzeugt, worüber er selbst erschrak, er würde dieser Unbekannten alles glauben, was von ihren Lippen käme. Ja selbst die unglaublichsten Dinge würde er nicht anzweifeln können, wenn sie es nur wäre, die sie aussprach. Eine aufrichtige, ehrliche Frau, die ihn von ganzem Herzen lieben würde, war alles, was er tief in seinem Innersten begehrte, sehnlich begehrte. Er hatte genug von den Diskothekenbekanntschaften, den Mädchen für eine Nacht und ganz besonders von jenen Frauen, die, während sie den Partner zärtlich schmusen und liebkosen, schon mit den Augen, den verderblichen, mit andern Männern buhlen. Diese üble, aber so zahlreich scheinende Sorte Weiblichkeit war ihm mehr als alles andere verhaßt. „Sie sind es, die in den Flitterwochen mit dem Kellner flirten, ach was, flirten, sie gehen mit ihm ins Bett, derweil der frischgebackene Ehegatte für die Heißgeliebte Blumen kauft!“ dachte Erik und spuckte, von dem Gedanken angewidert, in weitem Bogen über die Reling aus. Er hielt sich hier gerne auf; hier war auf dem Schiff einer seiner Lieblingsplätze.
Am Tag darauf, er dachte gerade wieder an die hübsche, fremde Jungfer, deren Bruder sich offenbar so gut mit Stella verstand, sah er sie plötzlich vor sich. Er war just im Begriff gewesen, für sich und die Seinen Proviant zu fassen, wie jeden Abend, und hatte sie zunächst gar nicht bemerkt. Sie mußte auch mit in der Warteschlange gestanden haben, denn sie trug ein Körbchen unter dem Arm, dessen Inhalt sich in ähnlicher Variation auch in seinem Rucksack fand: aufgebackenes Brot, Aufstrich, Ölsardinen sowie einige Äpfel. Sie trug das Körbchen elegant wie eine Handtasche, so daß man beinahe zu glauben versucht war, sie trüge es rein zur Zierde. Wundersamerweise kam Erik bei ihrem Anblick sofort das Märchen von Rotkäppchen in den Sinn, obgleich Scarlett weder rote Kleidung oder eine rote Kappe trug. Aber irgendwie mußte diese Assoziation ja zustande gekommen sein. „Hatte Rotkäppchen nicht auch so einen
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