Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
von etwas abhalten zu wollen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Er sagte, er werde Hilfe holen, also würde auch bald Hilfe erscheinen. Aber hatte sie überhaupt Hilfe nötig? Sie versuchte abermals, ein paar Schritte zu tun, aber der Schmerz ließ sie einhalten, und sie legte sich wieder aufs Bett.
Ihr Gatte hetzte indessen über Deck zu den Aufbauten des Schiffes, riß das Schott auf und keuchte die Treppen hinauf zur Kommandobrücke, auf der er den Zweiten Offizier als den Wachhabenden vorfand. Glücklicherweise gehörte die medizinische Versorgung an Bord auch zum Aufgabenbereich des Zweiten, so daß er im Augenblick seinen Mann gefunden hatte. Dieser rief den Ersten Offizier an, er solle seine Wache früher beginnen, da er an Deck einen medizinischen Notfall zu betreuen habe, dann folgte er Herrn Bühler zu seinem Wohncontainer.
„Moin, Moin, Frau Bühler, ich höre, Sie haben Schwierigkeiten?“ erkundigte sich der Niedersachse gleich beim Eintreten. „Es sieht gar nicht gut aus, sie kann kaum gehen“, sagte eine Stimme aus dem hinteren Bereich des Containers. Es war Erik, der inzwischen auch wach geworden war und nun angezogen auf seiner Pritsche saß und um den Gesundheitszustand seiner Mutter bangte. Er hatte erst seine geliebte Schwester verloren, wenn er jetzt auch noch... Er wollte gar nicht daran denken...
Hansen erkundigte sich genau nach der Art der Schmerzen, nach dem Bereich, in welchem sie auftraten und danach, ob sie permanent zu spüren seien oder nicht. Sein Gesicht wurde immer sorgenvoller, je mehr Einzelheiten er erfuhr und schließlich meinte er, dabei unwillig den Kopf wägend, nach seinem Dafürhalten handele es sich fast sicher um eine Blinddarmentzündung, die sofort operiert werden müsse; er sei aber kein Arzt und könne daher keinen solchen Eingriff vornehmen.
Entsetzt blickten sich die Bühlers an, und Martin Bühler sagte, dabei um seine Fassung kämpfend: „Herrgott nochmal, in einem Notfall wie diesem, müssen die Vorschriften den Notwendigkeiten Platz machen. Arzt hin oder her, operieren Sie, ich unterschreibe, was sie wollen.“
„Es sind nicht die Vorschriften, Herr Bühler. Ich verstehe ihre Aufregung, aber ich weiß nicht, wie dieser Eingriff vorzunehmen ist, ich bin nur mit der medizinischen Versorgung der Leute an Bord betraut, nicht damit, sie aufzuschneiden; bei allem Respekt: ich habe Nautik studiert, nicht Medizin.“
„Entschuldigen Sie, aber vielleicht befindet sich ein Arzt an Bord des Schiffes?“ entgegnete ihm Martin Bühler mit einem Klang von Hoffnung in der Stimme. Es war der Strohhalm, an den er sich jetzt noch klammerte, an den sich jetzt alle klammerten. „Das wäre möglich, ich lasse ausrufen“, sagte Hansen und griff nach seinem Funkgerät, das er stets mit sich führte, wenn er die Brücke verließ. „Erster Offizier, können Sie mich hören? Over.“ sprach er hinein; ein kurzes Rauschen, dann die Antwort: „Laut und deutlich! Over.“ Er schilderte seinem Ersten die Situation. Es dauerte keine weitere Minute, bis von allen Lautsprechern – innerhalb der Aufbauten sowie von den an Deck befindlichen – der folgende Aufruf ertönte: „Alle Personen, die Erfahrung in Erster Hilfe oder allgemein in medizinischen Dingen haben, insbesondere Ärzte und Krankenschwestern, werden gebeten, sich so schnell wie möglich achtern einzufinden, es gibt einen Notfall!“ Diese Aufforderung ertönte fünfmal hintereinander in dieser Weise, dann, nach etwa drei Minuten Pause, wurde das Ganze wiederholt. Die Bühlers hielten den Atem an – und hofften.
In einem anderen Wohncontainer, unweit von jenem der Familie aus Süddeutschland, entstand Bewegung. MacGregor war bei dem ersten Aufruf aus dem Schlaf gerissen worden, hatte den zweiten Aufruf verstanden und steckte – ehe noch die erste Abfolge an Wiederholungen der Meldung endete – schon in Stiefeln und Beinkleidern. Das machte eben einen guten Notarzt aus. Er ergriff seinen Arztkoffer und begab sich sofort nach achtern. Seine Freundin, die Medizinstudentin war, folgte in beinahe ebenso rasanter Geschwindigkeit zum hinteren Teil des Schiffes nach. Dort standen, als Iain MacGregor und Francis Boyle eintrafen, schon der Zweite Offizier, Lars Hansen, und Martin Bühler. Erik war mit der Schäferhündin bei seiner Mutter geblieben, um zur Stelle zu sein, wenn sie ihn brauchte. Einige Minuten später fand sich auch eine junge Französin ein, die bei Le Havre an Bord gekommen war. „Sind Sie
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