Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
professionelle Anglerausrüstung rar gesät. Die Seeleute hatten allerdings eine Methode entwickelt, die diese Ausstattung zum weitaus größten Teile überflüssig werden ließ. Sie umwickelten eine handelsübliche, leere Plastikflasche mit Anglerschnur, von der es genug an Bord gab, und hängten einen Köder an deren Ende. Schon hielten sie ein Gerät in Händen, das alle Anforderungen erfüllte, die man an eine herkömmliche Rute stellt. Wer keinen Köder besaß, baute sich Haken und Schwimmer eben selbst zusammen – so war schon gegen Abend die Reling von Amateurfischern übersät. Immer häufiger schienen die Fische mit Einbruch der Dunkelheit anzubeißen, denn man hörte zusehends bald Jubelgeschrei, bald ausgestoßene Flüche über Deck hallen, die von erfolgreichen und erfolglosen Duellen zeugten.
Einer der Angler war noch ein kleiner Junge, der eifrig am Werk zu sein schien und aufmerksam das Vorgehen der erfahrenen Matrosen studierte – von einem der Männer hatte er einen Tintenfischköder bekommen. Es war Thomas Strafford. Er prägte sich die Bewegungsabläufe sorgfältig ein und versuchte, sie genau zu kopieren. Er wickelte die Schnur sauber auf die große Plastikflasche, wählte sich eine Wurfrichtung, faßte den Köder, ließ ihn etwas nach unten gleiten, so daß sich zwischen dem Haken und seiner Hand, mit welcher er die Schnur fest umklammert hielt, ein wenig Leine befand, und schleuderte sodann mit der Rechten Angelschnur nebst Köder nach vorne, wobei er etwas schräg gegen den Wind zielte, damit derselbe den Haken eben dort hintrüge, wo er ihn haben wollte. Es war schön, dem Köder auf seiner Flugbahn nachzusehen, bis er weit draußen ins Wasser platschte, während sich noch immer Schnur von der provisorischen Angel abspulte, was ein schwirrendes Geräusch verursachte.
Die Art, wie Thomas angelte, wirkte schon sehr professionell; gerade so, als habe er nie etwas anderes gemacht. Der Erfolg allerdings ließ auf sich warten. Anfängerglück war dem jungen Angler zunächst nicht beschieden. Mit neidischen Blicken bedachte er die Personen, die links und rechts von ihm Fische aus dem Wasser zogen, doch ließ er in seiner Anstrengung nicht nach, um sich niedergeschlagen zurückzuziehen und Trübsal zu blasen wie manch anderer. Er machte vielmehr umso beharrlicher weiter, was typisch für ihn war. – Da! Endlich ruckelte und zog es leicht an der Schnur. „Hat doch noch einer angebissen!“ dachte Thomas. „Jetzt aber schnell einen kräftigen Ruck und er ist mein!“ Er riß die Leine ein Stück zurück, doch – was war das? Er fühlte plötzlich keinen Widerstand mehr, der Fisch war vom Haken, kein Zweifel. Er holte die Anglerschnur vollständig ein, doch mit Ausnahme eines kleinen, schleimigen Stückes, das von dem Maul des Tintenfisches herrühren mußte, den er kurzzeitig am Haken gehabt hatte, war nichts dran.
Betrübt sah er einen Augenblick hinaus aufs Meer, das so spiegelglatt und ruhig vor ihm lag, dann faßte er wieder Mut. Sein Köder schnellte hinaus und peitschte beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche gleichsam die See. Man konnte die Tintenfische mit bloßem Auge gut erkennen. Immer wieder zogen kleinere Gruppen von fünf oder sechs Tieren an dem Schiff vorbei, die in dem dunklen Wasser, das den Nachthimmel widerspiegelte, hell zu leuchten schienen. Es war schon fast halb zehn, und der Junge angelte bereits seit Stunden. Er mußte um zehn zuhause im Wohncontainer sein, sonst würde es Ärger geben. Aber er hatte sich fest vorgenommen, nicht eher seinen Platz zu räumen, als bis er etwas gefangen hätte, um nicht mit leeren Händen heimzukehren. Seine Beharrlichkeit sollte sich auszahlen. Noch ehe der Zeiger auf zehn Uhr abends vorgerückt war, hatte Thomas binnen einer halben Stunde drei dicke Tintenfische aus dem Wasser gezogen. Er hatte gut gezielt und langsam – Stück für Stück – die Leine eingeholt.
Nachdem er den ersten Fisch herausgezogen hatte, wußte er im ersten Moment, da er ihn neben sich legte, nicht, was mit dem Tier nun weiter anzufangen sei. Einfach liegen und sterben lassen, wie es die andern getan hatten, erschien ihm grausam und wenig schicklich. Er hatte einmal etwas von einem Riesenaxon des Tintenfisches gehört und wußte in etwa, wo es verlaufen mußte. Zwar hatte er im Grunde keine Ahnung von der Funktionsweise einer Nervenbahn und schon gar nicht von den Unterschieden einer saltatorischen zu einer kontinuierlichen Erregungsleitung, wie sie beim
Weitere Kostenlose Bücher