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Das kritische Finanzlexikon

Das kritische Finanzlexikon

Titel: Das kritische Finanzlexikon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Wierichs
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restlos begeistert, wenn ein Gläubiger zu ihm sagen würde: »Ich erlasse dir deine Schulden. Du kannst das Geld bei mir verzinslich anlegen; später erhältst du den Schuldenbetrag inklusive Zinsen zurück.«
    Vielen reicht das nicht einmal. Denn es werden ja immer noch Erträge, die über 801 Euro (Ledige) beziehungsweise 1 602 Euro (zusammen veranlagte Eheleute) liegen, mit 25 Prozent Abgeltungsteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag und gegebenenfalls Kirchensteuer belastet. Daher transferieren diese Leute Gelder in Steuerparadiese und gehen → offshore . Und die Banken helfen gerne aus, wenn es darum geht, Steuersparmöglichkeiten auszuloten oder »Steueroptimierungsmodelle« zu finden.
    Natürlich muss man differenzieren. Zu hohe Steuersätze für Durchschnittsverdiener würgen die Konjunktur ab. Aber angesichts der rasant steigenden Ungleichheit in Bezug auf Einkommens- und Vermögensentwicklung unserer Bevölkerung muss man höhere Steuersätze und konsequente Besteuerungsverfahren dort ansetzen, wo es primär um die Vermehrung der Finanzvermögen geht: bei Kapitaleinkünften, großen Vermögensübertragungen und Einkommen im Millionenbereich.
    Allenthalben redet man jedoch nur von Schuldenbremsen und Einsparungen. 7 Sozialleistungen werden zurückgefahren, öffentliche Einrichtungen müssen schließen, und der gesetzlich verbriefte Anspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab zwei Jahren ist bereits jetzt Illusion. (Sinnigerweise ist allerdings Geld für eine sogenannte Herdprämie, also die Bezahlung von Familien, die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte schicken, noch vorhanden.)
    Würden die Reichen in der Eurozone 40 Prozent ihres Vermögens an den Staat überweisen, wären alle öffentlichen Schulden schlagartig getilgt. Übrig blieben diesen Leuten dann noch 60 Prozent. Daran denkt kaum jemand – am wenigsten die Reichen selber.
    Aber irgendwann muss man mit dem Nachdenken beginnen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird die Zukunft nicht nur für weniger Begüterte zum Stresstest.

Stresstest
    Es ist das von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) für 2011 gekürte »Wort des Jahres«.
    Dieses Wort, ursprünglich aus der Humanmedizin stammend, begegnete uns im Laufe des Jahres auffällig oft. Es erwies sich dabei aus sprachlicher Sicht als äußerst produktiv und war in den verschiedensten Bereichen anzutreffen: Nicht nur Banken wurden auf ihre Belastbarkeit getestet, auch etwa das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg und deutsche Atomkraftwerke wurden Stresstests unterzogen. Diese Praxis und somit das Wort erlangten dadurch politische, wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Relevanz. So ist Stresstest mittlerweile als fester Bestandteil der Alltagssprache anzusehen.
    So die Begründung der GfdS für ihre Entscheidung. (Auf Platz 2 landete übrigens → hebeln .)
    Beim Stresstest geht es um Belastbarkeit. Für Banken bedeutet dies, dass geprüft wird, inwieweit die in den Bankenaktiva vorhandenen Vermögenspositionen (vor allem Wertpapiere und Kredite) von Wertverlusten aufgrund äußerer Faktoren wie Zins-, Konjunkturveränderungen, Umwelteinflüsse, politische Einflüsse etc. betroffen sein werden. Hier wird also – wieder einmal – ein Blick in die Zukunft geworfen. Und die Finanzindustrie arbeitet – wieder einmal – auf Basis komplexer mathematischer Modelle. Eine ganz wesentliche Rolle nimmt hierbei die Kennzahl »Value at Risk« (VAR) ein. Das Ergebnis einer VAR-Berechnung lautet dann zum Beispiel: »Das Portfolio mit den Wertpapieren A, B, C … weist einen VAR von 15 Millionen Euro bei einer Haltedauer von einem Tag und einem Konfidenzniveau von 98,2 aus.« Übersetzt: »Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,2 Prozent wird dieses Wertpapierportfolio bis morgen keinen Wertverlust von mehr als 15 Millionen Euro erleiden.
    Man ist zunächst geneigt, über die 98,2 Prozent zu schmunzeln und zu fragen: »Aber 14 Millionen oder 0 Millionen Verlust sind drin, oder was? Und außerdem: Was ist mit den restlichen 1,8 Prozent?« Davon abgesehen weist der VAR jedoch noch einen weiteren groben Schönheitsfehler auf. Man geht bei den Berechnungen nämlich davon aus, dass Risiken im Zusammenhang mit Wertpapierkursen aufgrund von Zins-, Konjunkturänderungen und anderen Faktoren normalverteilt sind. Will heißen: Für eine Aktie sind kleine Kursausschläge wesentlich wahrscheinlicher als große. Dies ist jedoch nicht der Fall.

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