Das kritische Finanzlexikon
Etliche Fachleute, allen voran der inzwischen verstorbene Mathematiker Benoît Mandelbrot, haben schon vor geraumer Zeit immer wieder darauf hingewiesen, dass die Normalverteilung die Realität an den Finanzmärkten nicht korrekt abbildet. Es kommt viel häufiger zu großen Kurseinbrüchen, als es die Normalverteilung unterstellt. Die unvorhergesehenen Ereignisse, die sogenannten Schwarzen Schwäne (vgl. → Finanzanalysten ), sind es, die den Normalverteilungsgläubigen immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Mit dem Terroranschlag 2001 in New York, dem Pazifik-Tsunami 2004 und der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 hatten wir innerhalb einer Zeitspanne von nur zehn Jahren drei Schwarze Schwäne, die – unter dem Aspekt einer Normalverteilung betrachtet – jeweils nur im Zeitabstand von Jahrhunderten hätten auftreten dürfen. Risiken von Finanzanlagen werden unbeirrt unter der Prämisse einer Normalverteilung gemessen. Und die Spekulationsmaschinerie läuft wie gehabt weiter. Das Ergebnis kennen wir inzwischen zu Genüge: Finanzkrisen am laufenden Band!
Synthetische CDO
Synthetische CDO sind äußerst komplexe Gebilde, die auf der Basis von Kreditbeziehungen konstruiert werden. Bei einem Kredit erhält ein Bankkunde Geld, zahlt regelmäßig Zinsen und zahlt, entweder in Raten oder in einer Summe, das erhaltene Geld zurück. Bis zum Produkt »synthetische CDO« durchlaufen Kredite mehrere Abstraktionsstufen.
1. Stufe: Forderungsankauf mit herkömmlicher Refinanzierung
Eine Volksbank hat jeweils einen Kredit an die Herren A, B, C und D zum Zinssatz von 9,5 Prozent gewährt. Die Kredite sollen nicht länger in den Büchern der Volksbank verbleiben. Also verkauft sie diese en bloc als Kreditportfolio an ein Finanzinstitut, das zur Finanzierung des Kaufpreises eine Schuldverschreibung herausgibt. Zahlungskräftige Anleger kaufen diese Schuldverschreibung und erhalten zum Beispiel jährlich 6,5 Prozent Zinsen. Aus dem so eingesammelten Geld können die Forderungen erworben werden. Die Volksbank ist nun die Kredite und das mit ihnen verbundene Risiko los und hat liquide Mittel, mit denen sie wieder etwas Neues anstellen kann. Sofern die Kredite ordnungsgemäß zurückbezahlt werden, hat das Finanzinstitut pro Jahr 3 Prozent verdient: Es kassiert 9,5 Prozent Zinsen und gibt 6,5 Prozent davon an die Käufer der Schuldverschreibung weiter.
2. Stufe: Forderungsankauf mit strukturierter Refinanzierung Das Finanzinstitut lässt vor Ankauf der Forderung die Ausfallwahrscheinlichkeit von einer trefflichen Ratingagentur (→ Rating ) ermitteln. Alle Forderungen, so erfährt es, besitzen eine Ausfallwahrscheinlichkeit von 10 Prozent. Jetzt kauft das Finanzinstitut die Forderungen von der Volksbank an, refinanziert sich aber nicht über eine normale Schuldverschreibung, sondern über ein strukturiertes Wertpapier. Die Forderungen an die Herren A und B werden zusammengefasst, ebenso wie die Forderungen an C und D. Für das erste Refinanzierungspapier gewährt das Finanzinstitut den Anlegern einen Zinssatz von 4 Prozent, weil dieses Papier als relativ sicher gilt: Es erfolgt nur dann keine Rückzahlung, wenn es zu einem Zahlungsausfall bei beiden Herren A und B kommt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem solchen Ausfall kommt, kann man leicht errechnen; sie beträgt 10 Prozent * 10 Prozent, also 0,1 * 0,1 = 0,01, oder anders ausgedrückt: 1 Prozent. Das zweite Refinanzierungspapier ist an die Forderungen gegenüber den Herren C und D gebunden. Hierfür gibt es 9 Prozent Zinsen, denn die Rückzahlung wird hier nicht gewährt, wenn nur einer der beiden Herren bei der Rückzahlung des Kredites schlappmacht. Auch diese Wahrscheinlichkeit ist schnell ermittelt: 10 Prozent + 10 Prozent – 1 Prozent = 19 Prozent. Damit wurde eine »Senior-Tranche« (Herren A und B, geringes Risiko) und eine »Equity-Tranche« (Herren C und D, hohes Risiko) und damit eine normale → CDO kreiert.
3. Stufe: Unterlegung mit Kreditversicherungen Die Spielerei mit den Wahrscheinlichkeiten wird jetzt munter weiter betrieben. Es wird eine weitere Tranche herausgegeben, die wie folgt definiert wird: Die Rückzahlung wird nicht gewährt, wenn A oder B und gleichzeitig C oder D ausfallen. Die entsprechende Wahrscheinlichkeit beträgt 19 Prozent * 19 Prozent, also 0,19 * 0,19 = 0,0361, somit 3,61 Prozent. Zudem wird noch ein weiterer Clou eingebaut – eine Kreditversicherung, zum Beispiel ein credit default swap (CDS). Der Kreditversicherer
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