Das kritische Finanzlexikon
eine Volkswirtschaft wird es, wenn viele Banken im Spiel sind, die als → systemrelevant gelten. Diejenigen jedoch, die in eben solchen Häusern für das Spekulationsgeschäft verantwortlich sind, befinden sich in einer ziemlich komfortablen Lage.
Der Begriff moral hazard kennzeichnet eine Situation, in der ein Widerspruch auftritt zwischen dem, was gut für die Allgemeinheit ist, und dem, was für ein Individuum gut ist. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Versicherungswirtschaft. Einer »moralischen Versuchung« erliegt zum Beispiel eine Person, die ihr Fahrrad ohne Selbstbeteiligung gegen Diebstahl versichern lässt und sich im Bewusstsein der Absicherung leichtsinniger (aber für sie lohnenswerter) verhält als vorher – indem sie ein billigeres, leicht zu knackendes Schloss kauft oder indem sie, um einen kleinen Fußweg einzusparen, das Fahrrad gedankenlos an einer diebstahlträchtigen Ecke abstellt, statt es eine Straße weiter sicher zu deponieren. Genau so ergeht es dem Investmentbanker, der unverzagt risikoreiche Transaktionen tätigt – in der Gewissheit, dass seine Bank im Ernstfall durch den Staat gerettet wird.
Die Versicherungswirtschaft reagiert auf das Problem des moral hazard mit gezielten Gegenmaßnahmen. Bei einer Selbstbeteiligung von 200 Euro oder bei Vorliegen umfangreicher Ausschlussklauseln würde unser Fahrradbesitzer ganz anders agieren. Was den Versicherungen recht ist, sollte der Bankenaufsicht billig sein.
Auch hier wird einerseits deutlich, wie dringlich eine schärfere Regulierung des Finanzsektors ist. Andererseits führt uns die Trägheit des Gesetzgebers in Bezug auf die Umsetzung einer solchen Regulierung auch vor Augen, wie mächtig die Finanzlobby ist. Denn alle bisher auf den Weg gebrachten Änderungen sind halbherzige Vorhaben – ob bei den Eigenkapitalvorschriften (vgl. → Eigenkapital und seine Rendite ) oder auch bei der Einführung einer Finanztransaktionssteuer (vgl. → Tobin-Steuer ).
Das aus dem moral hazard gespeiste Selbstbewusstsein der Branche wurde jedoch ernsthaft angekratzt, als Lehman Brothers Pleite ging. Göttergleich agierende Investmentbanker wurden in die Wüste geschickt. Es wurde ein Zeichen gesetzt: Keine auch noch so große Bank ist sicher. Wir benötigen noch viel mehr solcher Zeichen.
Ungleichheit
Am 30. Dezember 2011 schlugen 80 Steuerfahnder in Cortina d’Ampezzo, dem exklusivsten Wintersportdorf Italiens, laut einem Bericht der FAZ zu. Sie hielten teure Sportwagen und Limousinen an und überprüften deren Fahrer beziehungsweise deren Nutzer. Außerdem kontrollierten sie einschlägig bekannte Luxusgeschäfte. Von den etwa 250 überprüften Autos waren gut die Hälfte auf Privatpersonen zugelassen. Mehr als 30 Prozent dieser Personen hatten in der letzten Steuererklärung ein Jahreseinkommen von weniger als 30 000 Euro deklariert, gut 10 Prozent verdienten offiziell etwas weniger als 50 000 Euro. Bei den Haltern der anderen Luxusschlitten handelte es sich um Unternehmen, die laut Steuererklärung Verluste oder ganz geringe Gewinne machen. Es ist zu vermuten, dass es sich hier um Gesellschaften handelt, deren Besitzer in einem Steuerparadies, also → offshore sitzen und so nicht identifizierbar sind. Der Fahrer ist dann zwar nicht als offizieller Halter erfasst, steht aber de facto hinter der Konstruktion. Auch die Prüfungsergebnisse in den Geschäften förderten Überraschendes zu Tage. Keiner der ehrenwerten Kaufleute ging natürlich im Beisein der Finanzbeamten das Risiko ein, Waren ohne Kassenquittung auszuhändigen. Interessant war dann der anschließende Umsatzvergleich mit dem Vorjahr: Restaurantbesitzer konnten ihre Umsätze um 300 Prozent, Juweliergeschäfte sogar um 400 Prozent steigern.
Auch wenn Geld- und Realwirtschaft zusehends auseinanderdriften – das steueroptimierte respektive steuerbefreite Geld der Reichen landet natürlich irgendwann wieder in der Welt der Güter und Dienstleistungen. Allerdings bevorzugt in Form von Diamantcolliers, hochwertigen Accessoires oder Luxuskarossen. Man bleibt halt gerne unter sich. Und die Privilegierten achten auch bei solchen Transaktionen peinlich darauf, den Staat und seine Steuereinnahmen möglichst außen vor zu lassen.
Es ist schon eigenartig: Da lässt sich die Bundesregierung auf dem CDU-Bundesparteitag Ende 2012 als die »erfolgreichste Regierung seit der Wiedervereinigung« feiern und legt fast zeitgleich einen Armut- und Reichtumsbericht vor, der in nahezu allen
Weitere Kostenlose Bücher