Das kritische Finanzlexikon
sehen inzwischen ganz anders aus. Dort gibt es »Classic KnockOut-Short-Hebelzertifikate auf den DAX mit Basispreis und Stop Loss 6 600 Punkte«, ferner »Balance-Fonds«, bei denen eine möglichst höhere Wertentwicklung als bei einer reinen Rentenanlage erzielt werden soll (die allerdings bedauerlicherweise »aufgrund der Reaktionszeit des Modells das Risiko eines Anteilspreisrückgangs infolge von Kursverlusten mit sich bringen«). Oder »Credit Linked Notes, deren Step-up-Zins sich nach bestimmten Formeln (vgl. Anlage 1) aus mehreren variablen Zinssätzen (vgl. Anlage 2) zusammensetzt«. Wie konnte es dazu kommen?
Die Finanzindustrie hätte nie im Leben so gewaltig expandieren können, wenn es bei den beiden Grundformen geblieben wäre und wenn Wertpapieranleger ihr Investment mittelbeziehungsweise langfristig ausrichten würden. Aber es kamganz anders. Der Spekulationsaspekt rückte unaufhaltsam in den Vordergrund:
• Aktien und Anleihen sind, wie in den Abschnitten → Leerverkäufe , → Tageshändler und Hochgeschwindigkeitshandel (→ high frequency trading ) gezeigt wurde, zum Spielball kurzfristiger Spekulationsinteressen geworden. Zudem hat man sich den Trick mit dem → Index einfallen lassen. Es gibt weltweit einige Hundert Aktienindizes, und diese dienen nur vordergründig dazu, die Kursentwicklung der dort jeweils enthaltenen Aktien widerzuspiegeln. Vielmehr sind sie als Benchmark die entscheidende Richtschnur für spekulationsgetriebene Börsenakteure und fungieren darüber hinaus als Basiswerte von Spekulationsprodukten wie → Zertifikate .
• Schon frühzeitig hat die Finanzindustrie → Fondsanlagen als lukratives Instrument entdeckt. Man sammelt Geld, kauft Wertpapiere, Goldbarren etc. und wirft alle Vermögenswerte in einen Topf. Dann stellt man über dieses Topfvermögen Anteilsscheine aus, die man unter dem Marketingaspekt »breite Streuung = Risikominderung« feilbietet. Auf diese Weise wird Fonds um Fonds angelegt. Im Zuge des Investmentmodernisierungsgesetzes wurden 2003 sogar Dachfonds, also Fonds, die wiederum in andere Fonds investieren, als neue Anlageklasse zugelassen. Die Renditemodelle werden komplexer, das Angebot wird immer weniger durchschaubar. Weitere Provisionen generiert die Branche durch regelmäßige Umschichtungen – der Kunde soll ja stets das vielversprechendste Fondsprodukt in seinem Depot haben.
• Mitte der 1980er Jahre kamen dann sukzessive die innovativen Finanzinstrumente auf den Markt. Optionen und Futures (vgl. → Derivate ) waren bis dato etwas für Profis. Und sie dienten früher primär der Absicherung von Engagements. Jetzt kann jeder versuchen, mit Optionsscheinen (vgl. → naked warrants ) den Reiz des Finanzhebels (geringer Kapitaleinsatz mit hoher Gewinnchance; vgl. → leverage) auszukosten. Irgendwann kam die Finanzindustrie auch noch dahinter, dass man Derivate sehr schön mit dem altherkömmlichen Instrument der Anleihe kombinieren kann; dies war die Geburtsstunde der → Zertifikate , die vor allem in Deutschland weggingen wie warme Semmel.
• Vor etwa zehn Jahren kam eine weitere Innovation schwer in Mode: die → Verbriefung von Krediten. Der exzessive Handel mit den daraus konstruierten Finanzvehikeln → CDO und → synthetische CDO führte dann bekanntlich geradewegs in die Finanzkrise 2007.
Deswegen muss man sich vor Augen führen: Produktvielfalt und Produktkomplexität sind Geschäftsprinzip; auf Basis der Verwirrung und Verunsicherung ihrer Kunden macht die Branche lukrative Geschäfte, wenn sie große Renditeversprechen abgibt (ohne in hinreichender Weise auf entsprechende Risiken hinzuweisen).
Zur Beschreibung von Wesen, Chancen und Risiken einer Aktie oder einer Anleihe reicht ein Prospekt im Umfang weniger Seiten. Im Zusammenhang mit Finanzinnovationen werden häufig Verträge über mehrere Hundert Seiten ausgefertigt. Auch die Papierindustrie verdient am Boom der Finanzprodukte mit.
Uneinsichtiges und unverantwortliches Handeln
Die Finanzlobby ist mächtig. Sie verfügt über enorme Geldmittel; hinter diesen Geldern stecken das Großkapital und die Privilegierten. Und diese Leute fordern eine hohe Verzinsung ihrer Geldanlagen ein. Das wiederum geht eigentlich nur, wenn man bereit ist, entsprechend hohe Risiken einzugehen.
Wenn große Anlage-Volumina in riskante Verwendungen fließen, ergeben sich massive Auswirkungen auf gesamte Volkswirtschaften, letztendlich sogar auf die gesamte Weltwirtschaft. Besonders kritisch für
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