Das kritische Finanzlexikon
→ Staatspleite ging unverdrossen weiter. Sollen jetzt auch die öffentlichen Gläubiger, sprich: die anderen Euroländer, auf Forderungen verzichten? Sollen gar Haushaltsmittel aus diesen Ländern in die leeren Staatskassen der Krisenländer fließen?
Das waren und sind spannende Fragen. Aber was ist mit der Finanzindustrie?
Zunächst einmal spielt sie als Empfänger staatlicher Hilfsmilliarden eine unrühmliche Rolle. Milliardensummen flossen bereits und fließen immer noch in die Sanierung maroder Banken, und damit trägt der Finanzsektor ganz wesentlich zu der von Branchenvertretern so arg kritisieren erhöhten → Staatsverschuldung bei. Der Weiteren sollte man noch einmal auf eine kurze Spurensuche hinsichtlich der Verantwortlichkeit des Finanzsektors für den Ausbruch der Krise gehen.
Im Falle von Island ist die Antwort ziemlich eindeutig: Der Inselstaat im hohen Norden befand sich voll im Sog des Wahnsinns, der sich im Zusammenhang mit der Pleite von Lehman Brothers und den damit zusammenhängenden faulen amerikanischen Immobilienkrediten und Kreditverbriefungen (vgl. → CDO ) bis 2007 verbreitete.
Bei Griechenland ist die Sache etwas schwieriger zu beurteilen. Vordergründig geht es um politische Misswirtschaft. Ja, die Griechen haben schon bei der Aufnahme in den Euroverbund geschummelt. Richtig, die realwirtschaftliche Basis des Landes ist sehr schmal. Und – genau! – dort herrscht eine Vetternwirtschaft ohnegleichen. Nichts ging ohne fakelaki , jene Briefchen, mit denen Bestechungsgelder an Entscheidungsträger in Politik, Verwaltung und Wirtschaft überreicht werden. Steuersünder werden nicht konsequent beziehungsweise gar nicht verfolgt. Eigentlich gibt es dort überhaupt kein Steuer-»System« – trotz des aufgeblähten Verwaltungsapparates.
Das Land muss produktiver, konkurrenzfähiger werden, sagen Politiker und Wirtschaftsvertreter. Das ist richtig. Die Frage ist nur, wie man das erreichen kann. Es gibt immer noch eine Reihe von sogenannten Wirtschaftsweisen (mental gesehen eher als Vollwaisen zu bezeichnen), die dem Land eine Absenkung von Löhnen und Preisen bis zu 40 Prozent empfehlen. Das ist neoliberaler Irrsinn (vgl. → Neoliberale ); solche Rezepte verstärken die ohnehin bereits bestehende → Ungleichheit in eklatantem Maße und führen in den wirtschaftlichen Ruin. Betrachten wir an dieser Stelle einmal nur die finanzwirtschaftliche Seite.
Es gibt zunächst einmal eine direkte Verstrickung von Banken in die Griechenland-Misere. Nach Berichten seröser Zeitungen haben US-Banken wie Goldman Sachs und JP Morgan dem Land bereits vor dem Euro-Beitritt dabei geholfen, das Ausmaß der Staatsverschuldung zu verschleiern – indem zum Beispiel neue Kredite nicht ordnungsgemäß als Verbindlichkeiten, sondern als Währungsgeschäfte erfasst wurden. Im Gegenzug zu dieser statistischen Gefälligkeit haben sich die Investment-Magiere zukünftige Einnahmen aus Flughafengebühren oder Lotteriegewinnen zur Sicherheit abtreten lassen. Der Deal war damit für die Goldmänner vermutlich recht einträglich.
Abgesehen davon – die aktuelle Euro- und Staatsschuldenkrise (es geht ja nicht nur um Griechenland, sondern auch um Spanien, Italien, Portugal, Irland, letztendlich also um ganz Europa) offenbart in erschreckender Weise die Strukturprobleme des Finanzsektors:
Vor dem Schuldenschnitt von 53,5 Prozent, der Anfang 2012 durchgeführt wurde, betrugen die Schulden Griechenlands bei privaten Anlegern (also vor allem Banken, Versicherungen und Fonds) gut 200 Milliarden Euro. Der → haircut verursachte riesige Löcher in den Bankbilanzen. Weitere hohe Ausfälle bei europäischen Staatsschulden würden für das Finanzsystem in einer Katastrophe münden. Denn an dieser Stelle kommt das Eigenkapital (vgl. → Eigenkapital und seine Rendite ) ins Spiel.
Eine Bank muss nach »Basel II« 8 Prozent (Basel III 10,5 Prozent) seiner risikogewichteten Aktiva als Eigenkapital hinterlegen. Das Eigenkapital ist ein Risikopuffer; mit 8, beziehungsweise 10,5 Prozent fällt es ohnehin schon viel zu niedrig aus. Bei Staatsanleihen ist das Risikogewicht allerdings noch deutlich geringer als bei Unternehmensanleihen. Teilweise beträgt es null Prozent. Auch bei einem Risikogewicht von 20 Prozent fällt ein nur unerheblich höherer Eigenkapitalanteil von 1,6 Prozent (20 Prozent von 8 Prozent) an. Das hat die Banken bereits in der Vergangenheit dazu verleitet, verstärkt in Staatsanleihen zu investieren. Das rechnet
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