Das kritische Finanzlexikon
Bruttoinlandsprodukt (70 Billionen US-Dollar) und Derivatevolumen (760 Billionen US-Dollar) wird deutlich, dass, rein rechnerisch gesehen, jede Transaktion, vom Kauf eines Frühstücksbrötchens bis zum Bau eines Stahlwerks, elffach abgesichert wäre. Nein – es geht der Finanzindustrie um die Absicherung von Wertpapierbeständen, Forderungen und den hieraus resultierenden Zahlungsströmen. Wer beispielsweise VW-Aktien in seinem Depot hält, die er für 150 Euro je Aktie gekauft hat, kann diesen Kurs, wenn er sich von dem Bestand in drei Monaten trennen möchte, durch den Kauf einer Verkaufsoption (→ put ) zum Preis von 150 Euro nach unten abfedern. Steigt der Kurs in den nächsten drei Monaten, so verzichtet er auf die Ausübung der Option und verkauft die Aktie zum hohen Börsenpreis, bei gesunkenem Kurs kann er über die Ausübung der Option zumindest 150 Euro kassieren. Wer in zwei Monaten eine hohe Zinszahlung in US-Dollar erwartet, kann über ein Devisentermingeschäft bereits jetzt einen festen Kurs für den Zahlungseingang vereinbaren. In beiden Fällen liegt ein finanzökonomisch motiviertes Sicherungsgeschäft über ein Derivat vor (Option im Fall der VW-Aktien, Devisenfuture im Fall des Dollar-Zinseingangs). Beide Vereinbarungen sind aber auch der Rubrik → Wetten zuzuordnen, da der jeweilige Vertragspartner der Option beziehungsweise des Devisenfutures eine andere Auffassung bezüglich der zukünftigen Kursentwicklung der Aktie respektive des US-Dollars hat und diese andere Auffassung durch Eingehen der Derivate-Gegenposition zu Geld machen möchte. Mit der wohlklingenden Formulierung von Finanzlobbyisten, Derivate seien zur Steuerung und zum Management von Preisänderungsrisiken in einer immer komplexer werdenden Welt notwendig, wird die Allgemeinheit auf eine falsche Fährte gelockt. Man denkt an realwirtschaftliche Vorgänge, diese treten jedoch gegenüber den finanzwirtschaftlich motivierten Derivatepositionen weit zurück.
Erschreckend ist darüber hinaus das im Vergleich zu den börsennotierten Derivaten hohe Volumen der OTC-Derivate. Alle OTC entziehen sich einer offiziellen Erfassung (die BIZ schätzt die Werte), nicht standardisierte OTC können aufgrund der individuellen Vereinbarungen zu bösen Überraschungen führen, wenn aufgrund verklausulierter Vertragsbedingungen eine überraschende Zahlungsverpflichtung eintritt.
Derivate sind schon gefährlich genug, OTC-Derivate toppen dieses Risiko noch. Die Konsequenz kann eigentlich nur darin liegen, solche Auswüchse durch einschlägige Gesetze zu stoppen oder sie durch spürbar hohe Eigenkapitalunterlegungspflichten (vgl. → Eigenkapital und seine Rendite ) für die Vertragspartner uninteressant zu machen. So weit lehnt sich allerdings angesichts der Machtausstattung der Finanzlobby keine gesetzgebende Institution aus dem Fenster. Stattdessen bekommen wir EMIR.
Im Jahr 2008 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten, den OTC-Derivatehandel transparenter zu machen. In Europa wurde daraufhin die EU-Verordnung EMIR (European Market Infrastructure Regulation) ins Leben gerufen. Sie trat im August 2012 in Kraft und sieht eine Pflicht zur Verrechnung standardisierter OTC-Derivate über eine zentrale Verrechnungsstelle (→ clearing ) vor, die dann einen Überblick über Umfang und Volumen der getätigten Geschäfte hat. Außerdem sind alle OTC-Derivate, auch die nicht standardisierten, an ein Transaktionsregister zu melden.
Statt Begrenzung schaffen wir Transparenz. Das nunmehr transparentere Kasino steht den Spekulanten jedoch nach wie vor rund um die Uhr zur Verfügung.
P
Change
Die Sorge um unsere Altersvor-Sorge wurde uns von Politikern und sogenannten Finanzfachleuten tief eingeimpft. Daher »riestern« und »rürupen« wir nicht nur, sondern kümmern uns alternativ um eine betriebliche Altersvorsorge. Hier warten schon Pensionsfonds auf uns. Kleine Ursache, große Wirkung: Ein unscheinbarer Praktikant hat für prekäre Verhältnisse bei den Landesbanken gesorgt. Banken benutzen gerne und überall das Wort Produkte , welches Sachlichkeit vortäuschen soll. Und wenn es eng wird, hilft auch der beste put nicht mehr. Aber was soll’s; man muss immer optimistisch bleiben und auf eine gute put-call-ratio hoffen.
Pensionsfonds
Die Zahlen, die der »Pensionsfonds Angestellte in der Metallindustrie« (PAM) auf dem Depotauszug von Jan Springer ausweist, sehen gar nicht schlecht aus. Statt zu »riestern« hat sich der
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