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Das Kultur-Spiel

Das Kultur-Spiel

Titel: Das Kultur-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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hier und jetzt kannte, vollkommen und reich und maßlos, und doch, wenn sie beide einmal tot wären (und er stellte fest, dass er jetzt wieder ohne Angst an seinen eigenen Tod denken konnte), würde zumindest eine Welt – möglicherweise viele Kulturen – sie als etwas ganz Außergewöhnliches in Erinnerung behalten, eine Dichterin; die Herstellerin von Bedeutungsgebilden, die für ihn lediglich auf ein Blatt Papier geschriebene Worte oder Titel waren, die sie manchmal erwähnte.
    Eines Tages, sagte sie, würde sie ein Gedicht über ihn schreiben, aber jetzt noch nicht. Er vermutete, was sie von ihm wollte, war, dass er ihr seine Lebensgeschichte erzählte, doch er hatte ihr bereits gesagt, dass er das niemals tun könnte. Er brauchte vor ihr keine Beichte abzulegen, das war nicht nötig. Sie hatte ihn bereits von seiner Last befreit, auch wenn er nicht genau wusste, wie das geschehen war. Erinnerungen sind Deutungen, keine Wahrheiten, behauptete sie beharrlich, und rationales Denken war nichts anderes als eine von vielen instinktiven Kräften.
    Er spürte die langsam gesundende Polarisation seines Geistes, entsprechend der ihren, die Neuordnung all seiner Vorurteile und Dünkel durch die Anziehungskraft des Bildes, das sie für ihn darstellte.
    Sie half ihm, und zwar ohne es zu wissen. Sie flickte ihn und griff auf etwas zurück, das so tief vergraben gewesen war, dass er es für endgültig verschollen gehalten hatte, und nahm ihm den Stachel. Also war es vielleicht auch das, was ihn so faszinierte; die Wirkung, die diese eine Person auf Erinnerungen ausübte, die für ihn so schrecklich waren, dass er sich längst damit abgefunden hatte, dass sie mit dem Alter nur noch mächtiger wurden. Doch sie kreiste sie einfach ein, schnitt sie ab, trennte sie heraus und warf sie weg, und sie merkte nicht einmal, dass sie das tat, hatte keine Ahnung vom Ausmaß ihres Einflusses.
    Er hielt sie in den Armen.
     
    »Wie alt bist du?«, fragte sie in der Morgendämmerung nach der ersten Nacht.
    »Älter und jünger als du.«
    »Hintersinniger Quatsch; beantworte meine Frage!«
    Er schnitt der Dunkelheit eine Grimasse. »Na ja… Wie lange lebt ihr Leute hier?«
    »Ich weiß nicht. Achtzig, neunzig Jahre?«
    Er musste in seinem Gedächtnis kramen, wie lange ein Jahr hier dauerte. Annähernd. »Dann bin ich… ungefähr zweihundertundzwanzig; einhundertundzehn und dreißig.«
    Sie gab einen bewundernden Pfiff von sich und bewegte den Kopf auf seiner Schulter. »Eine echte Auswahl.«
    »Sozusagen. Ich bin vor zweihundertundzwanzig Jahren geboren, ich habe hundertundzehn davon durchlebt, und physisch bin ich etwa dreißig.«
    Ihr Lachen entstand tief in der Kehle. Er spürte, wie ihre Brüste seinen Brustkorb streiften, als sie sich auf ihn schwang. »Dann bumse ich mit einem Hundertzehnjährigen?« Sie hörte sich belustigt an.
    Er legte ihr die Hand auf den Po-Ansatz, der sich glatt und kühl anfühlte. »Ja, toll was? Du kommst in den Genuss der langen Erfahrung ohne die Pro…«
    Sie senkte sich auf ihn hinab und küsste ihn.
     
    Er legte den Kopf an ihre Schulter und zog sie dichter an sich. Sie rührte sich im Schlaf, bewegte sich ebenfalls, ihre Arme umschlangen ihn, und sie zog ihn zu sich. Er roch die Haut ihrer Schultern, atmete die Luft von ihrem Körper ein, der sie ihren Duft gegeben hatte, die von keinem Parfüm parfümiert war, sondern nur von ihrem Geruch. Er schloss die Augen, um sich ganz auf diese Wahrnehmung zu konzentrieren. Er öffnete sie wieder, nahm ihren schlafenden Anblick tief in sich auf, schob den Kopf näher zu ihrem, streckte die Zunge unter ihrer Nase aus, um ihren Atemhauch zu spüren, begierig, ihren Lebensfaden zu berühren. Seine Zungenspitze und die winzige Kuhle zwischen ihren Lippen und der Nase passten zueinander, als wären sie eigens so geschaffen worden.
    Ihre Lippen teilten sich, schlossen sich wieder; die Lippen rieben sich aneinander, verschoben sich von einer Seite zur anderen, und ihre Nase kräuselte sich. Er beobachtete diese Dinge mit heimlichem Entzücken, so hingerissen davon wie ein Kind vom Buh-Spielen mit einem Erwachsenen, der immer wieder hinter der Ecke einer Hütte verschwand.
    Sie schlief weiter. Er legte den Kopf wieder entspannt hin.
     
    Am ersten Morgen hatte er in der grauen Dämmerung dort gelegen, während sie seinen Körper eingehend erforscht hatte.
    »So viele Narben, Zakalwe«, sagte sie kopfschüttelnd, wobei sie mit dem Finger Linien auf seine Brust

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