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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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die Nerven, dass sein Lob nach hinten losgeht. Die Pressereaktionen sprachen von Billers »fürchterlichem Absturz«, von seiner »intellektuellen Überforderung«, von »ästhetischer Borniertheit«. Biller habe sich »um Kopf und Kragen« geredet. Die NZZ resümierte: »Die von ihm favorisierte sogenannte realistische Literatur hatte nicht zuletzt dank seinen öden Interventionen dieses Jahr wenig Chancen.« Krausser, der im Vorfeld als einer der Favoriten galt, fasst das trocken und ironisch so zusammen: »Wurde verrissen. Nur drei Juroren für mich, Demetz, Praesent und Biller, Letzterer leider mit Vehemenz (›Die absolut beste Geschichte des Wettbewerbs!‹). Die anderen trieben dafür ein böses Spiel mit mir.« In der FAZ wurden Biller, »der Kinderstar der Jury«, und Krausser vom Kollegen Thomas Hettche ebenfalls verspottet.
    Liest man Kraussers Geschichte heute noch einmal, kann man sich tatsächlich nur wundern, warum sie damals so schlecht wegkam (oder eben die naheliegende Erklärung für richtig halten). »Wege des Brennens« ist eine Geschichte, die von den ersten Sätzen an den Leser in den Bann zieht – in ihrem Kern steht eine grausame Selbstamputation. Der Erzähler erinnert sich an einen Jugendfreund, der sich einen Finger abhacken will, um der Einberufung zur Bundeswehr zu entgehen. Genauer betrachtet ist das aber ein raffiniertes Spiel um Fakten und Fiktionen der Vergangenheit, eine Reflexion über Erinnerung. Eine Jugendclique, die sich ihren eigenen Mythos geschaffen hat, wird im Rückblick auf den Boden der banalen Tatsachen zurückgeworfen. Von einem seltsamen, anachronistisch-blutigen Opferkult bleibt gemeinsames Saufen und Zündeln im Wald. Als die Bundeswehr-Geschichte dazukommt, wird aus dem Weihespiel eine Groteske. Wenn der Erzähler ständig betont, er könne nicht zu viel preisgeben, weil er die Rechte an der Geschichte an eine Dokumentarfilmerin abgegeben habe, nimmt er damit auch die damals weitverbreitete Forderung nach einem »filmischen« Realismus aufs Korn. »Realistisch« ist der Tonfall, Thema des Textes ist aber gerade die Stilisierung der Wirklichkeit zum Mythos, eine blutdampfende Ästhetik des Schreckens wird ironisch zitiert.
    Warum also diese heftigen Reaktionen? Man war damals in einem Kampf um den richtigen Begriff von Literatur: »Realismus« galt in jener Zeit als ein rotes Tuch, eine Art Lackmustest, bei dem jeder, ob Autor oder Kritiker, Farbe bekennen musste: Süßes oder Saures.
    Vor allem Maxim Biller hatte sich zum Wortführer einer literarischen Jugendbewegung aufgeschwungen, die sich einen Realismus amerikanischer Prägung auf die Fahnen geschrieben hatte. 1991 hatte er ein »Grundsatzprogramm« veröffentlicht, dessen Titel schon alles sagte: »So viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus«. Klagenfurt 1993 findet also in einem Umfeld statt, in dem die literarischen Dogmen der achtziger Jahre nicht mehr unbefragt gelten – der Vorrang der Sprachskepsis vor dem Sprachvertrauen, der Vorrang der Subjektivität der Wahrnehmung gegenüber einer Objektivität der Welt, der Vorrang der Erinnerung und der Rekonstruktion über die Gegenwart.
    Es ist daher nicht verwunderlich, dass Klagenfurt als ein Bollwerk des konservativen Avantgardismus die neue Richtung abwehrte und ein von der Literaturtheorie her denkender Schriftsteller wie Thomas Hettche gegen die am Boden liegenden noch nachtrat. Hettche hatte selbst in Klagenfurt gelesen, im Jahr 1989, im heißen Sommer vor der Wende. Über sein Debüt hatte Biller einst eine Totalvernichtung unter dem Titel »Thomas Hettche: Die poetologische Null-Lösung« geschrieben und darin gegen dessen Erfahrungsarmut und »angelesene Tiefstgefühle« polemisiert. Alte Liebe rostet nicht.
    In seinem Manifest »Stadtplan von Kiel« von 1991 hatte Maxim Biller das Problem verallgemeinert: »Noch nie gab es eine Schriftstellergeneration, die ein derart ereignis- und konfliktloses Dasein geführt hätte wie die unsere. Noch nie waren die Probleme eines Jahrgangs so belanglos und entrückt von allem wahrhaft Existentiellen. Uns bewegen doch höchstens mal ein paar Liebesprobleme oder eine völlig abstruse, abstrakte Angst. Aus diesem Stoff lassen sich keine Epochenromane und Gesellschaftsepen basteln.« Auf dieser Grundlage benennt er den Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur: »Es gibt keine Literatur mehr. Das, was heute in Deutschland so heißt, wird

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