Das kurze Glueck der Gegenwart
Ach, wenn Biller doch nur so subtil wie Proust und Thomas Mann schriebe … Das wäre ein Sonderrecht für große Geister, so, als dürfe man jeden durch den Dreck ziehen, wenn nur die Metapher kühn genug ist. Mit dem Literaturnobelpreis wäre Biller dann aus dem Schneider. Doch für die Kunstfreiheit darf die Qualität der Werke gar nicht ins Gewicht fallen. Juristen sind keine Kunstrichter. Auch ein Meisterwerk kann unerträgliche Beleidigungen enthalten.
Das zweite Argument klingt zunächst einleuchtend, hat aber in Wahrheit etwas Perfides. Denn so würde Opfern literarischer Grenzverletzungen von vornherein die Möglichkeit genommen, sich zu wehren. Jede Klage und einstweilige Verfügung würde sich dann selbst den Boden wegziehen; das Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Täter und Opfer wäre verkehrt. Zwar stimmt es, dass von allein wohl nur wenige Bekannte die Vorbilder identifiziert haben dürften (was laut Bundesgerichtshof schon ausreicht). Aber nicht die Reaktion, sondern der Roman ist die primäre Verursachung der Verletzung. Gegen eine Veröffentlichung kann man eben nicht im Verborgenen vorgehen, sondern nur durch eine – ebenfalls öffentliche – Klage.
Für Biller konnte das nicht überraschend kommen, wie die vorweggenommene Empörung Esras zeigt: »›Ich will dir nicht meine Brüste zeigen und später irgendwo lesen, dass ich dir meine Brüste gezeigt habe.‹ – ›Zeig her‹, sagte ich lachend.« »Esra« ist, und das macht die Sache nicht einfacher, zugleich ein Roman über den Vampirismus des Künstlers und ein Produkt dieses Vampirismus. Er ist die Probe auf sein eigenes Exempel – die Anwendung von Billers Forderung, Literatur müsse wieder blutiger Ernst werden.
In Tutzing warf er seinen Kollegen vor, deren Bücher seien von »Papierleichen« bevölkert, »die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben, die nicht fallen können, nicht schreien, nicht töten«. Nun, Biller hat seine eigene Literatur mit Menschen aus Fleisch und Blut bevölkert, die vieles können, auch sich verletzt fühlen. Ein Buchverbot muss eine radikale, wenn man so will, neoavantgardistische Ästhetik, die die Grenze zwischen Literatur und Leben ignoriert, eigentlich in Kauf nehmen, wenn nicht gar beabsichtigen. So gesehen, ergeben Roman und Rechtsstreit zusammen schon wieder Konzeptkunst.
Aus dieser speziellen billerschen Wirkungsästhetik ergibt sich auch eine Antwort auf das dritte Argument, von »Schäden« könne man bei fiktionalen Werken gar nicht sprechen. Natürlich wäre der Fall eindeutig, wenn Biller eine als solche deklarierte (Auto-)Biographie oder einen Essay mit dem Titel »Meine schreckliche Schwiegermutter« veröffentlicht hätte. Aber auch ein Roman bezieht sich auf eine Außenwelt. Schon eine bloße Widerspiegelung von Orten, Ereignissen oder Personen kann auf dieses Außen zurückwirken; eine tendenziöse Darstellung von historischen Geschehnissen oder ein satirisches Porträt einer Stadt kann Leser verärgern. Und ebenso kann eine verzerrte Darstellung von ansonsten eindeutig identifizierbaren Personen deren Rechte verletzen. Es ist ein Kurzschluss, zu behaupten, dass Identifizierbarkeit und Abweichung sich ausschlössen – und deswegen die Klägerinnen sich selbst widersprächen, wenn sie sich wiederzuerkennen glaubten und sich durch die Abweichungen verunglimpft fühlten. Wenn in einer Stadt das Brandenburger Tor steht und ich sie als ödes Provinznest beschreibe, weiß trotzdem jeder, dass es sich um Berlin handelt.
Es ist kurios, dass sich Autoren auf die totale Autonomie der Fiktion und der Kunst berufen, die zugleich die soziale Relevanz der Literatur betonen oder deren Verschwinden beklagen. Kunst, die wirken will, muss damit rechnen, dass sie trifft. Sich im entscheidenden Moment den Zaubermantel »Alles nur ausgedacht« überzustreifen ist nicht nur inkonsequent, sondern feige. Eine Literatur der radikalen Selbstentblößung, wie Biller sie fordert und in »Esra« auch umgesetzt hat, ergäbe dann gar keinen Sinn. Das Seltsame an der Debatte war also, dass Biller unter dem Niveau seines eigenen Romans und dessen impliziter Poetik verteidigt wurde.
»Esra« ist angewandter Realismus. Die Überschreitung der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist ja gerade das ästhetische Programm Billers. Dieser Vorwurf hätte ihn eigentlich mehr bestätigen müssen als jedes Lob aus dem Mund des Kunstrichters. Nur vor Gericht ist wirklich wirklich. Eine Literatur, die nicht die
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