Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
Vom Netzwerk:
Aufsteiger-Biographie, wie sie etwa der 1940 geborene Uwe Timm in seinen schönen autobiographischen Büchern wie »Am Beispiel meines Bruders« (2003) und »Der Freund und der Fremde« (2005) beschreibt, war zu dessen Zeit noch eine Ausnahme, zwanzig oder dreißig Jahre später in den Universitäten aber eher die Regel. Auch wenn die Rechnung »Aufsteiger gleich Populärkulturfan« nicht ohne Rest aufgeht, ist doch in der Breite eine andere Gelassenheit gegenüber beispielsweise der Genreliteratur oder einer dem Publikum zugewandten Schreibweise feststellbar. Insofern ist es auch kein Zufall, dass es die um 1960 Geborenen sind, Autoren wie Maxim Biller, Helmut Krausser, Matthias Altenburg oder Kritiker wie Uwe Wittstock und Lektoren wie Martin Hielscher, die erstmals unter dem Rubrum eines »neuen Realismus« ein Unbehagen am Status quo formulierten und die Defizite der vorliegenden Literatur aufzeigten – eine langsame, aber stetige Verschiebung der Diskursfronten.
    Solche Prozesse vollziehen sich natürlich schleichend, fast unmerklich, hinter dem Rücken der Beteiligten. Aber trotzdem gibt es Daten, an denen sie sich manifestieren. Wenn man über die Nachkriegsliteratur redet, ist das Jahr 1959 so ein annus mirabilis , so ein »Jahr der Wunder«, wie einer der wichtigsten Gegenwartsromane der letzten zwanzig Jahre heißt. 1959 erschienen Grass’ »Blechtrommel«, Bölls »Billard um halb zehn« und Johnsons »Mutmaßungen über Jakob«. Zwar erschienen mindestens genauso wichtige Werke wie Peter Weiss’ »Schatten des Körpers des Kutschers« und Martin Walsers »Halbzeit« erst ein Jahr später. 1959 aber hat sich eingebrannt.
    Ebenso ist 1995 das Jahr, in dem die deutsche Gegenwartsliteratur einen U-Turn hingelegt hat. Trotz aufgeregter Realismusdebatten erschienen die frühen neunziger Jahre noch wie eine Art Inkubationszeit, in der die Autoren sich auf die Suche nach der verlorengegangenen Welt begeben, aber sie noch nicht gefunden haben. Die Feuilletons werden außerdem beherrscht von Literaturstreit und Stasi-Debatten, die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit findet in Büchern beispielsweise von Monika Maron, Herta Müller oder Wolfgang Hilbig statt, während der gigantische Verkaufserfolg von Robert Schneiders Künstlerkitsch »Schlafes Bruder« (1992) eher die eskapistischen Tendenzen der Achtziger fortführt.
    Aber 1995 schließlich ist ein Schlüsseljahr, ein Scharnier. Es erscheinen Romane von Elfriede Jelinek (»Die Kinder der Toten«), Christoph Ransmayr (»Morbus Kitahara«), Marcel Beyer (»Flughunde«) und schließlich auch noch Bernhard Schlinks »Vorleser« – alles Werke, in denen der Umgang mit der deutschen Vergangenheit im Zentrum steht. Die Geschichts- und Vergangenheitsfixiertheit ist hier auf einen letzten Höhepunkt gelangt. Im gleichen Jahr sind aber mit »Nox« von Thomas Hettche, »Abschied von den Feinden« von Reinhard Jirgl oder Thomas Brussigs »Helden wie wir« lautstarke literarische Echos der Wende zu vernehmen, und, vor allem, es erscheint »Faserland« von Christian Kracht, der Roman, um den herum sich dann all das kristallisiert, was die deutschsprachige Literatur an Wünschen und Flüchen begleitete. Im Herbst 1995 erhält Durs Grünbein den Büchner-Preis – auch das ein Signal für die Aufbruchstimmung.
    In dieser Zeit kam es zu einer Umwertung der Gegenwartsliteratur. War das bis dahin vornehmlich Literatur gegen die eigene Zeit gewesen, wurde sie zu einer Literatur für die eigene Zeit. Gegenwartsliteratur – das sind große Bücher vom Hier und Heute. Von heutigen Problemen und Themen, von heutigen Menschen und ihren Fragen, ihren Bedrohungen und ihren Rettungen. Was scheinbar naheliegt, ist natürlich in Wahrheit das Allerschwerste.
    »Das kurze Glück der Gegenwart« wirft einen sehr persönlichen, »subjektiven« Blick auf deutsche Bücher der letzten zwanzig Jahre, aber auch auf die Menschen und die Gesellschaft, von denen sie handeln. Ich gehe von der optimistischen Prämisse aus, dass es einer Reihe von Autoren gelang, die eigene Zeit in Geschichten zu fassen. Dass das Glas eher halb voll als halb leer ist. Denn natürlich ist auch viel zu bemängeln und zu kritisieren. Einiges ist einfach zu vergessen, weswegen es in diesem Buch auch nicht vorkommt. Aber die Bücher, von denen ich erzähle, waren für einen glücklichen Moment gegenwärtig. Wenn sie wiedergelesen werden, machen sie für einen Moment glücklich.
    Gegenwartsliteratur will Waffe sein

Weitere Kostenlose Bücher