Das kurze Glueck der Gegenwart
Freiheit, über alles schreiben zu können, sei für ihn »die Luft zum Atmen«.
Ganz gleich, ob dieser Dialog nun seinerseits fiktiv ist – »Esra« ist ein Buch, das seine Wirkung bereits einkalkuliert, ein Buch auch über das Verhältnis von Literatur und Realität. Und ein Buch über den Schmerz: entstanden als Verarbeitung einer schmerzvoll gescheiterten Liebesgeschichte und zugleich konzipiert als Versuchsanordnung, die ihrerseits Schmerzen auslösen soll. »Esra« ist der Roman einer Verletzung und ein verletzender Roman.
Die »Esra«-Debatte ist zu einem Kristallisationskern verschiedener ästhetischer, juristischer und literatursoziologischer Fragen geworden, die weit über den Einzelfall hinausreichen – nicht nur in ihren konkreten Auswirkungen auf zukünftige Autoren oder auf die möglicherweise angestachelte Klagelust anderer Vorbildfiguren wider Willen. Doch der juristische Fall »Esra« ist – mit seiner spezifischen Konstellation einer späten Rache unter einstigen Geliebten – nicht ohne weiteres verallgemeinerbar: Es ist gar nicht die typische Schlüsselromanform, die ja nur bei mehr oder weniger prominenten Figuren funktioniert – etwa im Fall von Martin Walsers »Tod eines Kritikers« von 2002 (gegen den der darin karikierte Marcel Reich-Ranicki bemerkenswerterweise nicht juristisch vorging) oder im vergangenen Jahr bei Norbert Gstreins Suhrkamp-Schlüsselroman »Die ganze Wahrheit«. Bei Biller ist es genau umgekehrt: Er verschlüsselt vom ersten Satz an gar nichts und macht seine Figuren erst durch den Roman selbst bekannt.
Es gibt zahlreiche Details, die die Hauptfiguren des Buches trotz geänderter Namen eindeutig identifizierbar machen – und machen sollen. Auch den Ich-Erzähler selbst: »Es wird Zeit, kurz etwas über mich zu erzählen: Dass ich aus Prag komme, Jude bin und oft über Deutschland schreibe, ist kein Geheimnis. Mein Privatleben war aber bisher kein großes Thema, warum auch, ich bin kein Schauspieler oder Sänger.« Aber zum »großen Thema« hat Biller eben auch die Privatsphäre anderer gemacht – die seiner Exfreundin, die von deren Mutter und einigen weiteren Personen, etwa den Kindern der Beteiligten. Denn es gibt nicht sehr viele in Deutschland lebende türkische Umweltaktivistinnen, denen der Alternative Nobelpreis verliehen worden ist, oder türkische Schauspielerinnen, die in den achtziger Jahren den Bundesfilmpreis bekommen haben. Es gibt davon exakt so viele, wie es prominente jüdische Deutschland-Dauerkolumnisten gibt, die aus Prag stammen.
Aus der juristischen Auseinandersetzung hat sich, hinter dem Rücken der Beteiligten, eine poetologische Debatte über die Wirkung von Literatur entwickelt, wie sie in dieser Intensität seit Jahren nicht mehr geführt worden war: Zuvor war von Formen und Inhalten immer nur dann die Rede gewesen, wenn man nachträglich Erklärungen dafür finden wollte, warum nun das eine Buch Erfolg hatte und das andere nicht – rückwärtsgewandte Prophetie, Buchmarktforschung als Schrumpfform der Kritik. Bei Biller ging es plötzlich im Kern wieder um die Frage, was Literatur überhaupt sei. Das war aber gerade vielen seiner Verteidiger nicht klar. Die Urteilsbegründungen der Gerichte enthielten scharfsinnigere Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit als manche germanistische Studie.
Grob gerastert, lassen sich drei Argumente pro Biller unterscheiden. Erstens: Die Kunstfreiheit sei ein absoluter Wert, den einzuschränken nur Banausen und totalitären Systemen einfallen kann. Zweitens: Durch ihre Klage hätten sich die Klägerinnen selbst in die Öffentlichkeit begeben; der Roman sei somit erst durch den – von Biller unverschuldeten – Wirbel zum Schlüsselroman geworden. Drittens: »Esra« existiere als Werk der Fiktion unabhängig von der Wirklichkeit und könne daher gar keine realen Wirkungen wie etwa justitiable »Schäden« zur Folge haben.
Das erste Argument wird nicht richtiger dadurch, dass es stets mit großem Pathos vertreten wird: Die Kunstfreiheit ist selbstverständlich kein absoluter Wert, sie gilt stets nur in Abwägung mit anderen Gütern. Das muss nicht unbedingt der Schutz der Intim- und Privatsphäre sein. Man würde auch keinem Künstler die Lizenz erteilen, für eine zivilisationskritische Museumsinstallation drei Dutzend Hunde vergiften zu dürfen. Das betrifft allerdings auch diejenigen unter Billers Kritikern, die vermeintliche künstlerische Defizite zum Maßstab machen wollen:
Weitere Kostenlose Bücher