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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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von niemandem gekauft und gelesen, außer von Lektoren und Rezensenten, den Autoren selbst und einigen letzten, versprengten Bildungsbürgern. Die deutsche Literatur dieser Jahre und Tage ist eine Literatur der peinlichen, aber allessagenden Minimalauflagen. Es ist eine Literatur, die nur mehr auf den Seiten der Feuilletons und Kulturspalten stattfindet.« Der Niedergang des klassischen, dem Feuilleton eng verbundenen Bildungsbürgertums erscheint auch hier als Grund für die Selbstgettoisierung des Betriebs.
    Schon dafür musste Biller harte Kritik einstecken (aber immerhin brachte ihn der Wirbel dann bis in die Klagenfurter Jury). Doch das war nichts gegen die Welle der Ablehnung zehn Jahre später, als Biller im beschaulichen Tutzing – statt des Wörthersees ist es der Starnberger See – versucht, seinen Generalangriff zu wiederholen. Der Tiefpunkt ist erreicht, als er ausgerechnet seinem vermeintlichen Freund Rainald Goetz den Vorwurf der »Schlappschwanzliteratur« ins Gesicht schlägt. Dabei hat der doch gerade mit »Abfall für alle« das kühne Experiment einer Gegenwartsmitschrift in Echtzeit unternommen. Ein alter Weggefährte wie Matthias Altenburg kommentierte damals, Biller sei »seinem selbst verfertigten Image als Kraft- und Hassmeier des Literaturbetriebes auf den Leim gekrochen«. Seine Rede markiere »den vorläufigen Tiefststand literarischer Diskussion« in Deutschland, das sei »Proll- TV fürs Feuilleton«. Denn in der Zwischenzeit, und genau das soll ein Thema dieses Buches sein, hatte sich die Literaturszene radikal gewandelt. Denn die Literatur war längst aus ihrem Elfenbeinturm herabgestiegen und der Realismus zur Leitkultur des Betriebs geworden. Wer nun noch mehr Realismus wollte, der musste tatsächlich strafbare Handlungen begehen.
    Seither hat Biller eine Menge Bücher veröffentlicht: Erzählungsbände, seine gesammelten Zeitungskolumnen, die »Moralischen Geschichten« (2005), zuletzt »Der gebrauchte Jude«, ein schönes autobiographisches Werk über seine journalistischen Anfänge in den achtziger Jahren (2009). Doch wird man ihn wegen eines Buches in Erinnerung behalten, das gar nicht zu kaufen ist. 2003 erschien »Esra«, eine traurige, sehr ehrliche Geschichte einer gescheiterten Liebe, die nur einen Haken hatte. Sie war nicht nur ehrlich, sondern wahr. Die darin beschriebene Frau, Billers Exfreundin, fühlte sich verunglimpft und in ihrer Intimsphäre verletzt; sie und ihre Mutter, die ebenfalls, kaum verschlüsselt, im Buch ihr Fett wegkriegt, strengten einen Prozess an, der als heftigste und folgenreichste literarische Debatte des letzten Jahrzehnts in die Geschichte einging.
    Biller bescherte der literarischen Diskussion über Realismus und die Wahrheit der Fiktion, über Autonomie und Wirkung einen Dauerbrenner, der mit jeder weiteren Instanz und mit jedem neuen Urteil wieder angefacht wurde.
    Tatsächlich war der Roman »Esra« die strengste erzählerische Konsequenz aus Billers ästhetischen Grundannahmen. Der Weg von Klagenfurt über Tutzing nach Karlsruhe, vom literarischen zum juristischen Urteil war, so gesehen, folgerichtig wie eine rechtsphilosophische Abhandlung.
    Denn wenn Literatur nackte Wahrheit und blutiger Ernst sein soll, ist es die größte Bestätigung für einen Autor, wenn die von ihm als Vorbild genommenen Personen sich durch die literarische Darstellung verletzt fühlen. Je größer der Schmerz (der anderen), desto wahrer die Erzählung. Es war daher zwar zur Verteidigung unumgänglich, aber doch ganz inkonsequent, im Prozess von Seiten des Verlags ständig den Fiktions- und Kunstcharakter zu betonen. Besteht doch Kunst für Biller gerade in der Nähe zur Wirklichkeit, in der Verwischung der Grenze zur journalistischen Recherche, nicht zuletzt in der Fähigkeit, zu hassen und weh zu tun.
    »Esra hatte von Anfang an zu mir gesagt, ich dürfe nie etwas über sie schreiben.« Gleich zu Beginn, im dritten Kurzkapitel des Romans, gibt es ein ausführliches Gespräch zwischen Esra und dem Ich-Erzähler, einem Schriftsteller namens Adam, über das Verhältnis von Kunst und (Privat-)Leben. Adam soll seiner Partnerin versprechen, ihre Liebe nie zum Romanstoff zu machen: »Ich will mit dir privat sein. Verstehst du?« Adam versteht, findet ihre Panik aber zugleich »fast unangenehm kleinbürgerlich«. Später denkt er an die Reaktionen in Lübeck auf die »Buddenbrooks«: »Warum, dachte ich nun, soll ich für Esras Engstirnigkeit Verständnis haben?« Die

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