Das kurze Glueck der Gegenwart
und weh tun
Ich sage nur ein Wort: Klagenfurt. Wenn es unter Literaturinteressierten fällt, ist jeder sofort im Bilde. Der Name dieser Stadt steht für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur so wie Verdun für den Ersten Weltkrieg und Dijon für Senf. Historiker nennen so etwas einen »Gedächtnisort«. Aber woran erinnert sich das kollektive Literaturgedächtnis beim Wort »Klagenfurt«? An literarische Werke eher nicht, obwohl es ein Wettlesen ist, das bekannteste Wettlesen hierzulande. Eher schon erinnert man sich an Literaten. Eben etwa an Rainald Goetz, der sich hier einmal, 1983, bei seiner Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn angeritzt hat, so dass ihm das Blut übers Gesicht lief und auf sein Manuskript tropfte, während er in seinem Text die Jury beschimpfte und mit der blutarmen Literatur seiner Zeitgenossen abrechnete. Einen Preis hat er dafür trotzdem nicht gekriegt. Aber seitdem ist allen die Verbindung von Klagenfurt mit Blut, Schweiß und Tränen bewusst. Für die Autoren ist Klagenfurt einer der Schmerzensorte der Literatur, wo neben den glücklichen Siegern einige schwer getroffene Literaten ihre einsamen Spaziergänge machen. Gegenwartsliteratur ist Literatur, die weh tut.
Die meisten Nichtautoren aus dem inneren Kreis des Literaturbetriebs, also Kritiker, Lektoren, Literaturagenten und andere Geschaftlhuber, denken bei dem Ort aber an etwas ganz anderes. An Badespaß im Strandbad am Wörthersee beispielsweise, an ausladende Obstbrandverkostungen in der Privatwohnung eines kauzigen ortsansässigen Gelehrten, der daher von allen nur der »Schnapsprofessor« genannt wird, an die Menüs im Fischrestaurant Maria Loretto und an den Schrecken bei der Präsentation der Rechnung oder an lange Radtouren um den See. An Knutschereien in der Single-Disco zu glücklich verdrängten Achtziger-Jahre-Hits. An peinliche Begegnungen mit wichtigen Verlegern beim Katerfrühstück.
Meine stärkste persönliche Erinnerung an Klagenfurt ist das WM -Finale in Südkorea 2002: Deutschland gegen Brasilien. Das fand nämlich wegen der Zeitverschiebung am Klagenfurt-Sonntag um dreizehn Uhr statt, das heißt direkt nach der Preisverleihung, so dass ich meinen Zeitungsbericht exakt während des Endspiels schreiben musste, mit dem Laptop neben dem winzigen Hotelfernseher. Bernd Schneider machte das Spiel seines Lebens, Oliver Neuville donnerte einen irren Freistoß aus gefühlten vierzig Metern an den Pfosten, und wenn nicht Ballack gesperrt gewesen wäre und Oliver Kahn nicht diesen einen blöden Fehler gemacht hätte, hätten wir gewonnen. Wer damals Klagenfurt gewonnen hat, das muss ich bei Gelegenheit mal nachschauen, das habe ich vergessen. Wie ich meinen Text fertiggekriegt habe, auch.
Klagenfurt ist so etwas wie das Taufritual des Literaturbetriebs. Jeder Neuling, Jungredakteur und Nachwuchslektor wird hier hingeschickt, um einmal im Wörthersee wie im Jordan zu planschen. Für die Autoren ist diese Taufe eher eine Feuertaufe, so wie man im Krieg das erste Gefecht nennt. Und vielleicht ist ja dieses ganze neckische Drumherum, das Schwimmen und Kicken und Saufen und Sonnenbaden, nur dazu da, um das schlechte Karma zu kaschieren, das hier alle ausstrahlen: die Autoren, weil sie so nervös sind. Die Juroren wegen ihres schlechten Gewissens, weil sie den Autoren einen reinwürgen. Die Journalisten, weil sie den Juroren einen reinwürgen. Alle, weil sie wieder nicht richtig zugehört haben und die Nachmittagsrunde zugunsten des Sees geschwänzt haben.
Denn eigentlich ist Klagenfurt ja ein bizarres Ritual: Die eingeladenen Autoren lesen jeweils eine halbe Stunde einen unveröffentlichten Text, um danach von einer sich grotesk in der Mehrzahl befindlichen Runde von überwiegend feindlich gesinnten oder bestenfalls teilnahmslosen Kritikern zerpflückt zu werden. Bei der Prügelei auf dem Schulhof hätte man früher gesagt: Wie feige, sieben gegen einen. Und der eine darf sich noch nicht einmal wehren. Es ist nämlich nicht vorgesehen, dass der Autor den Kritikern etwas entgegnen dürfte, egal wie unfair die kämpfen. Für die Schläge unter der Gürtellinie muss er sich am Ende auch noch bedanken.
Und trotzdem ist Klagenfurt auch der Ort, an dem sich die Veränderungen, die Verschiebungen des literarischen Feldes manifestieren. Ich möchte eine Klagenfurt-Geschichte aus dem Jahr 1993 erzählen, einem Jahr, in dem die Diskussion über die junge deutsche Literatur einen Höhepunkt erreichte. Die Hauptdarsteller sind zwei
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