Das kurze Glueck der Gegenwart
deutschen Geschichte wieder aus der Erde krochen. Berlin repräsentierte damit den ganzen Osten: 1992 ereignete sich der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, bei dem unter dem Beifall von Anwohnern ein ausländerfeindlicher Mob gegen eine Asylbewerbersammelstelle mit Molotowcocktails vorging. Der Osten erschien als Hort des Neonazitums, der finstersten Seiten der Geschichte, die durch die DDR gleichsam eingefroren und über die Jahrzehnte in der Kühltruhe des offiziellen Antifaschismus konserviert worden waren – und jetzt nach der Wiedervereinigung wieder auftauten. Diesem Gefühl vieler Linker entsprach natürlich verständlicherweise auch der Blick der Nachbarn auf Deutschland. Ich erinnere mich selbst noch sehr gut an meine ersten Reise nach Polen im Herbst 1991, als mich in einer Straßenbahn in Lodz ein alter Mann halb erschreckt, halb hasserfüllt zurechtwies, als er mich zu meinem Freund Deutsch sprechen hörte.
Selbst den deutschen Volksvertretern war Berlin nicht ganz geheuer. 1991 verabschiedete der Bundestag den sogenannten Hauptstadtbeschluss mit 338 zu 320 Stimmen, also denkbar knapp. Berlin sollte auch Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschland werden, aber erst 1994 wurden im Berlin/Bonn-Gesetz die Einzelheiten geregelt.
Der Gegenwartsroman der frühen neunziger Jahre ist daher zuallererst ein Vergangenheitsroman, denn die Rückkehr dieser Vergangenheit war gerade ein Teil dieser Gegenwart. Die Geschichte war plötzlich wieder da, und nicht wie in Ecos »Name der Rose« oder dem »Foucaultschen Pendel«, Süskinds »Parfum« oder Ransmayrs »Die letzte Welt« als postmoderne Kulisse für süffige Krimiplots oder heiteres Zitate-Raten, sondern als tiefere Dimension des Hier und Jetzt. So als wäre man unter der schicken Fußbodenheizung eines lichten, kellerlosen Bungalows plötzlich auf dunkle Verliese und Folterkammern gestoßen.
Im Sommer 1990 legte man bei den Vorbereitungen für das Rockspektakel »The Wall« von Pink Floyd in der heutigen Ebertstraße den Bunker der Fahrbereitschaft Adolf Hitlers frei – am ehemaligen Standort der Neuen Reichskanzlei. Bis zum Mauerfall lag der Bunker mitten im Niemandsland; unmittelbar nach den Kämpfen vom Anfang Mai 1945 ist er verschlossen worden und nun lag sein Inhalt wie ein archäologischer Fund da: Alltagsgegenstände der SS -Männer von der Leibstandarte Adolf Hitler sowie germanisch-kitschig dräuende Wandgemälde, die wohl zum Zeitvertreib entstanden waren. Prompt brach unter Historikern ein Streit los, wie man mit dieser makabren Stätte umgehen sollte, so als hätte man die Büchse der Pandora geöffnet.
Dieser und andere, noch vermutete Keller voller Leichen waren der eigentliche Grund dafür, warum sich viele gegen einen Umzug der Regierung in die nominelle Hauptstadt Berlin aussprachen. Man hatte Angst vor Berlin, dem alten Berlin, vor Preußen, vor dem »Reich« und einem vermeintlich unumgänglichen Ruck nach Osten. Mit der Wiedervereinigung rückte den Westdeutschen die Geschichte ganz konkret näher: Westerplatte und Danzig, Auschwitz und Majdanek, Dresden und die Gustloff, Posen und Königsberg. Während Straßburg eine schöne französische Stadt war, wo man Riesling trinken und deftig essen konnte, war Breslau ein Ort, an dem die bösen Geister wohnen.
Und mit denen sollte man jetzt Kontakt aufnehmen?
Thomas Hettches Roman »Nox« von 1995 ist das Paradebeispiel für diese Remythisierung Berlins, die sich mit leichter Zeitverzögerung in der Literatur niederschlug. Erzählt wird der Roman von einem Toten, einem Schriftsteller, der zu Beginn von einer ihm nur flüchtig bekannten Frau ermordet worden ist. Der Roman spielt in der Nacht des Mauerfalls und unmittelbar davor. Die namenlose Frau irrt nach ihrer Tat scheinbar sinn- und ziellos auf der Suche nach ihrer eigenen Identität durch die Stadt. Sie begegnet einem masochistisch veranlagten Mann, mit dem sie Sex hat, wird von einem Hund der Grenzwachtruppen verfolgt, gerät in einen Ring von Sadomaso-Pornofilmern, die im anatomischen Theater der Charité düstere Rituale veranstalten. Ist die Frau eine Allegorie Deutschlands, namenlos, auf der Suche nach der Identität zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Sind die Narben und Wunden Symbole der Grenze oder umgekehrt, die Stadt ein geschundener Körper? Man muss solche Frage natürlich in der Literatur nicht eindeutig beantworten können, aber man darf natürlich schon fragen, was das alles soll. Hettches Sprachkunst verdankt
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