Das kurze Glueck der Gegenwart
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Außerdem gelingt es Beyer, wirklich bis zu den letzten Sätzen die Spannung aufrechtzuerhalten, die Unklarheit darüber, wie weit der Erzähler Karnau selbst in das Geschehen verstrickt ist, als Beobachter oder Beteiligter: »Das ist der letzte Satz, den ich verstehen kann. Nein, diese Aufnahme habe ich nun wirklich nicht durchgeführt. Sie weist an keinem Punkt die Tonqualität der anderen Dokumente auf, und man hört nichts von den Nachtgesprächen der sechs Kinder.«
Beyers Roman reagiert seismographisch auf das Geschichtsgefühl der neunziger Jahre. Es gibt kaum Debatten, die die Politik und die Medien so beschäftigt haben, wie die Frage nach repräsentativen Geschichtsorten. Stadtschloss oder Palast der Republik? Holocaust-Mahnmal und »Topographie des Terrors«, das neue Kanzleramt und die Verhüllung des Reichstages – die Neunziger waren besessen von solchen staatsästhetischen und geschichtspolitischen Fragen. Es war eine Zeit, als politische Symbole und symbolische Politik wichtiger waren als wirkliches politisches Handeln, das nach den Aufregungen der Wiedervereinigung nun von alleine zu laufen schien. In der späten Kohl-Ära (die ja, man glaubt es kaum, bis 1998 währte) surrte die Wirtschaft vor sich hin, breitete sich per Internet und Handy die Zukunft von alleine in alle Haushalte aus. Von den dunklen Finanzkrisenwolken war noch nichts am Himmel zu sehen, ebenso wenig wie von entführten Passagiermaschinen und einstürzenden Wolkenkratzern. Demographie interessierte nur Experten. Und so hatte man in der Gegenwart viel Zeit, um sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Die zentrale Frage war: Wie kann die Vergangenheit angemessen repräsentiert werden, so dass sie angesichts der Gegenwart oder gar der Zukunft nie aus dem Blick gerät? Zwar war viel von künftigen Generationen die Rede, aber tatsächlich tat man so, als könne man heute für alle Zeiten ein Bild von der Vergangenheit festlegen und als würde nicht gerade jede neue Epoche ihren eigenen Blick entwickeln.
In den Achtzigern hatte man wenigstens noch Angst vor allerlei Dingen, man war, wenn auch mitunter wahnhaft und paranoid, fixiert auf böse Technologien, Atomkriegsdrohungen und Waldsterben. In den Neunzigern war das alles sehr weit weg, weil die Vergangenheit an die Stelle dieser Obsession getreten war. Der nach Amerika ausgewanderte Romanist Hans Ulrich Gumbrecht schrieb 1996, vom fernen Kalifornien aus: »Nicht einmal die deutsche Kultusministerkonferenz würde ja daran festhalten wollen, dass all die jetzt in Berlin entstehenden Geschichtsmonumente deshalb gebraucht werden, weil man ohne sie Gefahr liefe, eines Morgens den Holocaust aus dem Gedächtnis verloren zu haben, oder weil Geschichtslehrer nur mit auf die Reste des Führerbunkers gerichtetem Zeigefinger ihren Schülern klarmachen können, dass etwas faul war im Dritten Reich. Worum es geht, ist – bis ins technische Detail – eine Variante des Entsorgungsproblems in der Dimension von Geschichtlichkeit.« In Berlin ragen die Reste einer immer noch nicht bewältigten Vergangenheit in die Gegenwart.
Martin Klugers gewaltiger, über tausend Seiten umfassender Roman »Abwesende Tiere« von 2002 ist eine tragikomische und groteske Variante des geschichtspolitisch aufgeladenen Berlin-Romans. Dem Buch, das fast ausschließlich im Berliner Zoo spielt, ist ein seltsames Verzeichnis vorangestellt, das »die Lebewesen in der Reihenfolge ihres Erscheinens oder ihrer Abwesenheit« aufführt. Die tierische Hauptfigur ist ein sprechender Graupapagei namens Schiefhals, älter als das Jahrhundert und zugleich ein lebendes Archiv, vollgestopft mit Schlagerzitaten und Gesprächsfetzen. Das schräge und hochbegabte Tier, das die Presse und das Publikum verrückt macht und die Herzen greiser Sponsorinnen aus Übersee höher schlagen lässt, wurde 1897 in Ostafrika geboren und hat, um ein angemessen schiefes Bild zu verwenden, ein Elefantengedächtnis. Schiefhals hat als eines von wenigen Tieren den Bombenkrieg und die völlige Zerstörung des Zoos überlebt und ist die personifizierte Erinnerung.
Kluger entwirft den Berliner Zoo als einen Mikrokosmos, in dem sich die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bündelt. Einst war der Zoo selbst Opfer, 1945 lag er in Trümmern, die allermeisten Tiere tot. Zur Zeit der Romanhandlung, etwa Mitte der siebziger Jahre, steht der Zoo jedoch in voller Blüte, ist einer der artenreichsten der Welt, seine
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