Das kurze Glueck der Gegenwart
Darstellung, sondern das Bereiten von Schmerz als Maßstab ihres Realismus ansieht, kann erst zufrieden sein, wenn der Leser aufschreit.
Als Billers Roman erschien, schrieb ich eine der ersten Rezensionen. Es war ein emphatisches Lob. Ich habe meine Meinung nicht geändert, obwohl ich das spätere Verbot des Romans und die Verurteilung Billers richtig finde. Es schließt sich nicht aus. Wenn Wirklichkeit und Literatur so kollidieren wie bei »Esra«, kann es sein, dass die Literatur den Kürzeren ziehen und zurückstecken muss. Die Literatur hat sich so weit vorgewagt, dass jetzt die Realität die Romane per Gerichtsurteil auf die Fiktionalität zurückstufen will. Das kann sie versuchen, die Literatur aber sitzt am längeren Hebel.
So ist es auch kein ästhetisches Argument gegen Norbert Gstreins sicherlich böswillige Fiktionalisierung von Ulla Unseld-Berkéwicz, der Witwe des früheren Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld und mittlerweile selbst Suhrkamp-Verlegerin, in seinem 2010 erschienenen Roman »Die ganze Wahrheit«. Mancher hat Gstrein einen Rufmord vorgeworfen. Doch das wäre ein Fall für die Gerichte. Das subtile Spiel mit Fakten und Fiktionen, das Gstrein betreibt, hat auch hier eine literarische Qualität, gerade weil es treffen und verletzen will. Hass oder Rache sind moralisch verwerfliche, möglicherweise juristisch heikle, künstlerisch aber legitime Quellen der Literatur.
Gstrein, der frühe Suhrkamp-Autor, der Siegfried Unseld zeitweise sehr nahegestanden haben muss, rechnet mit seiner Exverlegerin ab, indem er in der Deckung einer komplexen Erzählkonstruktion Gerüchte und üble Nachrede streut. Er hat die Biller-Prozesse genau verfolgt, sich abgesichert, alle Fakten so weit wie möglich verfremdet, den Suhrkamp-Verlag zu einem Wiener Kleinverlag gemacht und so die literaturpolitischen Konsequenzen des Rechtsstreits gezogen.
Aber Gstrein, von Billers Poetik sonst denkbar weit entfernt, steht hier eindeutig in den Fußstapfen dieses angewandten Realismus. Auch Thomas Hettche hat in seinen jüngsten Roman »Die Liebe der Väter« eine autobiographische Konstellation aufgenommen und schreibt, nicht ohne Ressentiments, über eine Mutter, die dem Vater das eigene Kind vorenthält. Da ist der alte Antipode und Gegenspieler plötzlich ganz nah an Billers »Esra«, freilich ohne dessen Zynismus.
So gibt es einen neuen Test für Literatur, gewissermaßen wie bei einer Zahnarztuntersuchung: Wenn etwas weh tut, ist der Nerv getroffen und noch nicht tot. Gegenwärtig ist, was Schmerzen bereitet.
1.Jeschichte wird jemacht: Berlin als Topos des Terrors
Als 1980 die Düsseldorfer Band Fehlfarben das wichtigste deutsche Popalbum jener Jahre herausbrachte, »Monarchie und Alltag«, und Peter Hein sang »Geschichte wird gemacht: Es geht voran«, da konnte man noch überzeugt sein, im tiefen Westen der Bundesrepublik im Zentrum des Geschehens zu sein. Düsseldorf war die Hauptstadt von Punk und Neuer Deutscher Welle, Köln Kunstmetropole, Frankfurt nicht nur Bankenstadt, Hamburg ein Zentrum des politischen Widerstands und der musikalischen Subkultur. Wenn man urban oder gar metropolitan leben wollte, war Westberlin nur eine Option unter mehreren. Dann kam die Wende.
Und plötzlich war Berlin etwas ganz anderes. Oder genauer, es bedeutete etwas anderes, auch wenn es sich selbst erst ganz langsam, dann freilich immer schneller veränderte. Berlin, so zeigte sich nach 1989, war auf untergründige Weise verbunden geblieben mit Tiefenschichten der deutschen Vergangenheit. Es war ein mythischer Ort oder jedenfalls einer, an den die in Ost und West auf sehr unterschiedliche Weise exorzierten Dämonen über Nacht wiederkehrten. Berlin war immer noch oder wieder »Zone«, wie sie Thomas Pynchon in »Die Enden der Parabel« entworfen hatte – eine mancherorts unheimliche, finstere Zwischenwelt. Nach dem Mauerfall wurde aus dem mal kiezig-multikulturellen, mal depressiv-nofuturemäßigen Westberlin plötzlich wieder die Hälfte eines Schwarzen Lochs namens Reichshauptstadt, eine »Topographie des Terrors«, wie die Anfang der Neunziger entstehende Ausstellung über die Nazi-Vernichtungsmaschinerie pars pro toto für die ganze Stadt hieß. Sven Regener hat später in seinem sehr erfolgreichen Roman »Herr Lehmann« (2001) das alte putzige und gemütliche Kiezkneipen-Berlin beschrieben. Nach dem Mauerfall war es damit vorbei.
Berlin wurde, gewissermaßen über Nacht, zum Geisterreich, wo die Toten der gesamten
Weitere Kostenlose Bücher