Das kurze Glueck der Gegenwart
»Nox« einen anatomisch kalten Ton, eine Atmosphäre, in der die Stadt tatsächlich wie narkotisiert auf dem Operationstisch liegt. Der Autor als Gerichtsmediziner, der ermittelt, welches Jahrhundertverbrechen hier vorliegt.
Dieses artifizielle und mit Symbolen überladene Geschehen wird ohne jede Ironie geschildert. Hettche will also nicht etwa die Wiederkehr der Mythen vorführen oder sich gar darüber lustig machen. Bierernst verwandelt er die Stadt in ein Zwischenreich, das vor höherer Bedeutung nur so wabert. Eine merkwürdige Sucht nach selbstzerstörerischem Sex füllt die hohlen Larven der Figuren aus. Aus dem ganzen Buch spricht eine Sehnsucht nach großen, gefährlichen Erfahrungen, nach Blut, Schmerz und körperlichen Grenzerfahrungen. Aber warum nicht lieber für einen Marathon trainieren oder Fallschirm springen?
»Nox« ist das literarische Pendant zum Bungeejumping, ein künstliches Surrogat für echte existentielle Erfahrungen, für eine Biographie, die von kollektiven oder individuellen Katastrophen geformt und gebeutelt wurde. Deswegen muss der Roman auch in Berlin spielen, in einem wieder zu historischem Bewusstsein erwachenden Moloch. Doch ist der Mauerfall keine Party, sondern eine Kulisse finsterer Exzesse. Demonstriert wird eine für den Zuschauer schmerzhafte erzählerische Selbstverstümmelung, mit der literarische Intensität erreicht werden soll. Mit dem realen Berlin der Wendezeit hat dieser Roman nicht viel zu tun; die Gegenwartsnähe wird simuliert. So wird das Buch eher unfreiwillig zum Zeichen seiner Zeit. An ihm ist eine Sehnsucht nach Wirklichkeit und Erfahrung ablesbar, der Wunsch nach dem Ausbruch aus den Schleifen der Reflexion. Doch die Selbstamputation macht aus einem noch keinen Kriegsheimkehrer; die Swingerparty kann nicht die traumatisierende Erfahrung einer historischen Katastrophe ersetzen. Wer nicht an der Gegenwart leidet, sollte den Stoff für Dramen anderswoher beziehen. Daher ist der Roman eher das exemplarische Spätwerk einer auslaufenden Literaturepoche denn ein Aufbruch.
Marcel Beyers Roman »Flughunde« erschien im gleichen Jahr wie »Nox« und führt den Leser ebenfalls in einen finsteren Berliner Keller, in den Führerbunker nämlich. Auch dies ist, nicht dem Genre, aber dem mentalitätsgeschichtlichen Kontext nach, ein Berlin-Roman. Zehn Jahre vorher hätte man darin vor allem einen Nazi-Roman erkennen können, der deswegen teilweise in Berlin spielt, weil dort nun einmal der Führerbunker war. Jetzt, angesichts der realen, neu zugänglichen Topographie, ist der Roman selbst Arbeit am neuen Berlin-Mythos, indem er das Düstere, Verdrängte, buchstäblich Begrabene wieder ins Bewusstsein ruft. Beziehungsweise die Geschichte hörbar macht, ihre akustische Spur.
Denn Hauptfigur und einer der beiden Erzähler des Romans ist der Tontechniker und Schallexperte Hermann Karnau, der im Dritten Reich an dem Plan arbeitet, eine Karte sämtlicher akustischer Äußerungsformen des Menschen anzulegen. Was zunächst die spinnerte Vision eines Sonderlings ist, entwickelt sich dann unter den Bedingungen des Kriegs zu einem medizinisch-technischen Großprojekt. Nachdem Karnau sich mit den Aufnahmen der Schmerzenslaute verletzter oder sterbender Soldaten an der Front bereits unter seinen Kollegen ins Abseits begeben hat, verschafft ihm der Kontakt zum SS -Arzt Stumpfecker die Mittel, sein Archiv durch furchtbare Menschenexperimente zu vervollständigen.
»Flughunde« wäre schon allein als Parabel auf die Verirrungen einer zum Selbstzweck gewordenen Wissenschaft ein beeindruckender Roman. Doch hat Beyer die Geschichte dieser monströsen Klangforschung verknüpft mit dem Schicksal der sechs Goebbels-Kinder, die in den letzten Kriegstagen von ihrer eigenen Mutter im Führerbunker ermordet wurden.
Helga, der Ältesten von ihnen, gehört die zweite Erzählstimme des Romans. Karnau ist ein Bekannter der Familie und durch Helgas kindlichen Blick auf diesen netten, aber etwas merkwürdigen Mann erhält die Figur Tiefe. Wie überhaupt das Dritte Reich in dieser doppelten Verfremdung neu sichtbar wird: einerseits der Kinderblick auf »Papa« Goebbels und seine Hetzreden, andererseits die technisch verzerrte Perspektive des Akustikers.
Das letzte Drittel des Romans spielt in der grotesken Szenerie des Führerbunkers der letzten Kriegstage. Karnau ist hier als Assistent des zu Hitlers Leibarzt aufgestiegenen Stumpfecker damit beschäftigt, die letzten Äußerungen des hier nur noch
Weitere Kostenlose Bücher