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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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»der Patient« genannten Diktators phonographisch festzuhalten. Hitlers Tod wird hier nur als Versiegen einer Sprachquelle dargestellt: »Der Redner ist erloschen. Er kann nicht mehr sprechen.« Vor ihrer Flucht instruiert Stumpfecker seinen Assistenten noch, von nun an mit der »gebrochenen Stimme« eines Opfers zu sprechen: »Sie müssen stottern, aussetzen, Worte verfehlen.«
    Und tatsächlich entgeht Karnau der Bestrafung. Der lange Epilog spielt 1992. In Dresden ist ein altes Schallarchiv entdeckt worden, das durch unterirdische Gänge mit dem Deutschen Hygiene-Archiv verbunden ist. Hier arbeitet Karnau als Wachmann und erklärt den verblüfften Mitgliedern der zuständigen Untersuchungskommission, was es damit auf sich hat: ein merkwürdig auskunftsfreudiger Wachmann, der sich damit sogleich verdächtig macht, früher doch eine verantwortungsvollere Position eingenommen zu haben – zumal die Untersuchung eines angrenzenden Operationsraumes ergibt, das hier noch bis in jüngste Zeit Experimente durchgeführt wurden.
    Schließlich sehen wir Karnau beim Abhören einer Serie von Wachsplatten aus dem Führerbunker, auf denen die Stimmen der Goebbels-Kinder zu hören sind. Erst nach und nach kann sich Karnau an die Entstehung der Aufnahmen erinnern; er selbst hat in das Schlafzimmer der Kinder ein Mikrophon geschmuggelt. Auf den letzten Seiten wird der Roman zum Kriminalfall; den heimlichen Aufnahmen nämlich will Karnau das Geheimnis entreißen, wer Martha Goebbels beim Töten ihrer Kinder geholfen hat.
    Marcel Beyers Roman liefert nicht nur eine starke Metapher für die Wiederkehr der verdrängten deutschen Vergangenheit. Beyer verwendete dabei Texttheorien des in jener Zeit in deutschen germanistischen Oberseminaren entdeckten Poststrukturalismus, Theorien über die Präsenz der menschlichen Stimme im Gegensatz zur »toten« Schrift, die Anwesenheit des Abwesenden in der technischen Aufzeichnung. Doch im Gegensatz zu Hettches »Nox« schlägt bei Beyer die Theorie nicht negativ zu Buche, sondern sorgt für eine intensive Zeichenverdichtung – angefangen bei der großartigen Idee des Buchcovers, auf dem ein stilisierter Plattenspieler mit den Zahlen »33« und »45« zugleich das Piktogramm eines Hitler-Kopfes ergibt. Das Dritte Reich ist heute, mehr noch als 1995, fast ausschließlich über mediale Dokumente zugänglich. Zugleich kommt der Einbildungskraft eine Rolle zu, die man ihr noch in den siebziger Jahren kaum zugestanden hätte.
    Uns ist heute, nicht zuletzt durch einen Film wie den ebenfalls im Führerbunker spielenden »Der Untergang« (2004), die Möglichkeit vertrauter, uns mit den Mitteln der Fiktion an den Kern der Jahrhundertkatastrophe heranzuwagen. Steven Spielbergs »Schindlers Liste« von 1993 war hier, nicht ohne eine heftige moralisch-ästhetische Debatte, der entscheidende Tabubruch. Beyers praktisch zur gleichen Zeit unternommener Versuch, wie durch ein Schlüsselloch die letzten Tage des banalen Bösen zu beobachten, war kühn – auch durch die Einnahme der Täterperspektive, ein heikles literarisches Mittel, mit dem erst jüngst Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten« (2006) noch einmal für erregte Debatten sorgte.
    Beyers Roman hat zwei große Stärken – neben der Dichte im Atmosphärischen und den genau recherchierten und doch frei von dokumentarischem Anspruch verwendeten Fakten. Erstens wählt er sich einen höchst unzuverlässigen, »vergesslichen«, selbst verstrickten Erzähler und kann damit neben den Verbrechen selbst auch den Umgang mit der Schuld und die Strategien der Leugnung und Verdrängung thematisieren. Allein dadurch stellt er jenseits der schaurigen Augenzeugenschaft einen starken Gegenwartsbezug her. Nebenbei bemerkt ist das viel stärker und überzeugender als im »Untergang«, wo allein die beiden O-Töne der alten Traudl Junge, damals Hitlers Sekretärin, am Anfang und am Schluss die Klammer um das ganze Geschehen bilden müssen.
    Zweitens verschiebt er das Verbrechen vom Holocaust und Vernichtungskrieg auf die Ermordung der sechs Goebbels-Kinder, die als Unschuldige auch andere Opfergruppen repräsentieren. Beim »Untergang« nimmt diese furchtbare Episode auch breiten Raum ein, dient aber hier in erster Linie dazu, die beiden Goebbels zu dämonisieren und deren grenzenlosen Fanatismus zu zeigen. Bei Beyer dagegen werden die Morde an den Kindern im Mikrokosmos des Führerbunkers zum letzten, für das Lebensdrama der Beteiligten aber entscheidenden

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