Das kurze Glueck der Gegenwart
werden sollte. 1997 waren fast viereinhalb Millionen Menschen arbeitslos, davon allein eineinhalb Millionen in den fünf neuen Ländern (19,1 Prozent). Diese fast zwanzig Prozent, zusätzlich geschönt durch ABM und Umschulungen, hielten sich ebenfalls hartnäckig bis 2005. Dass in dieser Zeit die Menschen Bücher lesen wollten, die eine gelangweilte Jeunesse dorée beim Feiern zeigte, würde auf ein ziemlich merkwürdiges Verhältnis von Basis und Überbau verweisen.
Kafkas selbstgewisser Satz, dass Schriftsteller wie vorgehende Uhren seien, wäre also beim Sozialen eine nicht ganz zutreffende Beschreibung der Literatur um die Jahrtausendwende gewesen. Man konnte bei manchen der populären Autoren eher den Eindruck haben, als bemühten sie sich um exakte Synchronisierung mit bestimmten medialen Zerrbildern der Gegenwart oder als seien umgekehrt ihre Zeiger längst stehengeblieben, irgendwann im Goldenen Zeitalter der siebziger oder achtziger Jahre, als die Rente sicher war und blinkende Quarzuhren in Mode kamen. Zeichen der Zeit waren die Retro-Party, die Nostalgieshow, die Vintage-Mode.
Daher auch die vielen, vielen zeitlosen Kindheitsgeschichten. Aus den erfolgreichen Büchern der ersten Jahre des neuen Millenniums ließen sich kaum Zeichen unserer Zeit lesen – wenig von sozialer Eiszeit, der Rückkehr der Unterschicht, den Erniedrigten und Beschädigten. Man konnte kurz den Eindruck haben, das ganze Aufbruchsvollgas der neunziger Jahre habe die Literatur über die Pop/Mode/Lifestyle-Schiene mit Spitzentempo auf die falsche Auffahrt gejagt. Sie erschien wie ein Geisterfahrer auf der Überholspur, zwar Gegenwart, aber betrachtet durchs Monokel oder, wie bei Christian Kracht, durch ein Zielfernrohr.
Ich kann den Tag genau datieren, an dem ich wusste: Jetzt wird alles wieder anders, jetzt hat die Literatur die Kurve gekriegt, die hat ja plötzlich Realitätsgehalt: Es war ein Sonntag im November 2003, einer jener kühlen, tristen Herbsttage rund um den Sankt-Martins-Tag, in der zugigen »Backfabrik« am Prenzlauer Berg, wo damals das Open-Mike-Literaturfestival stattfand. Es war schon dunkel, man hatte den ganzen Tag Lesungen von mehr oder weniger interessanten, aber recht braven Nachwuchsautoren gehört und mochte sich schon in Gedanken in warme Lokale versetzen, da trat als letzte Teilnehmerin Kirsten Fuchs ans Mikrophon, eine schmale, energische Person mit rotgefärbtem Kurzhaarschnitt und Army-Look, und las einen kleinen Ausschnitt aus ihrem für die erlaubten fünfzehn Minuten viel zu langen Manuskript. Der Auszug aus dem Roman »Die Titanic und Herr Berg« warf ein Schlaglicht auf das Leben ihrer beiden Hauptfiguren: Peter und Tanja. Er ist Sachbearbeiter beim Sozialamt, sie eine von ihm betreute Antragstellerin. Hausbesuche, hastiger Sex, Einsamkeit allein und dann Einsamkeit zu zweit. Mehr geschieht hier nicht, doch wie die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Autorin das in zwei grandiose, einander abwechselnde innere Monologe fasste, wie sie das Banale, diese Ränder unserer alltäglichen Wirklichkeit bis in den letzten Wahrnehmungswinkel ausleuchtete – das zog allen Zuhörern schlicht die Schuhe aus: »Die Frau, die den Kinderwagen will, duzt mich. Ich sieze sie. Ich gehe durch ihre Wohnung wie durch ein modernes Museum. Was wollte der Künstler uns damit sagen? Es ist eine kackbeschissene Welt? Die Ironie liegt im Abwasch? Das erste Kind sitzt mit einer Beule auf dem Kühlschrank als Symbol für was Kaltes? Die soziale Kälte im Eisfach neben dem Spinat? Weil ich gar nicht schlechte Laune habe, sage ich: ›Hübsch ham Sies hier!‹«
In einem Ton, der an Mike Leighs Film »Naked« denken lässt, erzählt Fuchs hart und gnadenlos und dabei viel unbemühter als das herkömmliche sozialkritische Erzählen, bis sich jede Frage nach gesellschaftlicher Relevanz von Literatur einfach in den Äther davonmacht: »Sie heult immer noch. Als wäre das eine ausweglose Situation. Ist es nicht. Es ist Kleinkram, gegen den Großkram.« Die Kunst einer Literatur, die auf den Alltag blickt, ist jedoch, im Kleinkram den Stoff zu erkennen.
Kirsten Fuchs gewann den Open-Mike-Wettbewerb damals überlegen, zu groß schien der Abstand zwischen dieser vielversprechenden, sprachspielerisch-virtuosen, aber doch zugleich harten und bodenständigen Prosa und den restlichen, durchaus begabten, aber doch im Vergleich langweilig, selbstbezogen und blutarm wirkenden Standardproduktionen junger deutscher Autoren. 2005 erschien dann
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