Das kurze Glueck der Gegenwart
ist eine proletarische Variante des bürgerlichen Trauerspiels, wie es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Bühne große Erfolge feierte, bei Gerhart Hauptmann oder Ödön von Horváth etwa, bei »Kasimir und Karoline« oder den »Geschichten aus dem Wiener Wald«. Die deutsche Literatur erlebt hier eine Wiedergeburt des Naturalismus.
Claudia Klischat wurde 1970 in München geboren. Zu Beginn des neuen Jahrtausends machte sie erstmals auf sich aufmerksam, als ihre Kurzgeschichte »Vom Fisch bespuckt« (die auch einer wichtigen Anthologie junger Autoren den Titel liefern sollte) beim Berliner Open Mike gewann. Da war plötzlich, schon einige Jahre vor Kirsten Fuchs, ein neuer Ton wahrzunehmen, ein schonungsloser Blick auf ein Mädchen aus der sogenannten bildungsfernen Schicht, ein grelles Schlaglicht auf ein chancenloses Leben, dessen Traum zerstört wird.
»Morgen. Später Abend« ist ein sehr ambitioniertes, schwieriges Buch. Es hat nicht die Leichtigkeit und den kalauernden Sprachwitz des Lesebühnen-Routiniers Kirsten Fuchs, die ein aus jahrelanger harter Arbeit erprobtes Gefühl dafür hat, wann die nächste Pointe fallen muss. Klischats Buch hat drei Teile, die jeweils den inneren Monolog eines Menschen wiedergeben, der von einer fixen Idee vollkommen in Bann geschlagen ist: Tom, ein offenbar geistig verwirrter junger Mann, arbeitet als Pizza-Austräger in Leipzig und wacht eines Morgens neben einer ihm fremden älteren Frau auf. Mühsam versucht er zu rekonstruieren, was am Abend zuvor Dramatisches geschah: Sein Overall ist blutverschmiert; dafür hat er eine Sporttasche voller Geld bei sich, das dem Nachbarn der Frau gehört. Besessen von der Vorstellung, sein älterer Bruder Ben habe sich soeben im süddeutschen Heimatort das Leben genommen, setzt er die Einzelteile seiner Erinnerungen zusammen, ohne den Schlüssel für das Geschehen zu finden. Als der Nachbar auftaucht, flieht Tom, irrt in der Stadt umher, folgt einer anderen Frau nach Hause, klaut ein Auto und kehrt schließlich zu San, seiner Freundin, zurück.
Im zweiten Teil begegnen wir einem weiteren Jungen auf der Flucht. Veit, ein Kleinkrimineller, dem Jugendhaft droht, begleitet Bubi, einen älteren Mann, in dessen Wohnblock und wird dort in ein zunächst undurchsichtiges Familiengestrüpp verwickelt. Bubi lebt mit seiner Tochter – ebenjener San aus dem ersten Teil – zusammen, von deren Freund der Vater aber nichts erfahren darf. Des Nachts kippt ein Müllwagen vor dem gegenüberliegenden Haus seine stinkende Ladung aus, Schüsse fallen, es scheinen Rechnungen beglichen zu werden, deren Anlass im Dunkeln bleibt. Der letzte Teil schließlich beschreibt einen Tag im Leben einer Alkoholikerin, Mitte vierzig, die vergeblich versucht, ihr Leben in den Griff zu kriegen und endlich einen Antrag auf dem Arbeitsamt abzugeben, überzeugt davon, dass sich dann schlagartig alles zum Besten wenden würde.
Mit großer Virtuosität, vergleichbar mit den raffinierten Drehbüchern des kanadischen Filmregisseurs Atom Egoyan, hat Claudia Klischat ihre Geschichte komponiert, deren drei Teile auf vertrackte Weise miteinander verknüpft sind. Der zweite und dritte Teil erzählen die Vorgeschichte des ersten: Veit begegnet dem Paar San und Tom und deren Familien etwa ein Jahr vor den Ereignissen zu Beginn; der Gang zum Arbeitsamt findet am Tag vor dem fatalen Abend statt, die Alkoholikerin ist jene Frau, neben der Tom aufwacht.
Das Buch gleicht einem Triptychon, einem dreiteiligen Altarbild. Im Zentrum steht die Darstellung einer heillos zerrütteten Familienkonstellation, geprägt durch patriarchale Gewalt und ein inzestuöses Verhältnis. Die kreisförmige Struktur der Erzählung bildet die Ausweglosigkeit noch einmal ab: das Leben als unentwirrbares Knäuel von Schuld und Verhängnis, das sich stetig fortzeugt: »Hier hat man sich gegenseitig auf dem Gewissen«, schreibt San in ihrem Abschiedsbrief an Veit, der schließlich als Einziger eine Art Läuterung durchläuft. Wenn der soziale Brennpunkt die Hölle ist, kann der Knast zum Fegefeuer werden.
Claudia Klischat knüpft, ziemlich unzeitgemäß, an Darstellungen zerfallenden Bewusstseins in der klassischen Moderne an: An Robert Musils Versuch im »Mann ohne Eigenschaften«, dem Serienmörder Moosbrugger in den Kopf zu schauen, an Joyce und Döblin. Großartig gelingen ihr die Schilderungen der mystischen Augenblicke der Erlösung, in denen die Menschen, die in allem Elend stets ihre Würde
Weitere Kostenlose Bücher