Das kurze Glueck der Gegenwart
der Roman, dem Jahr, in dem Hartz IV eingeführt wurde. Selten passt die Symbolik eines Erscheinungsjahrs so genau: »Ich war heute im Sozialamt, nachdem ich im Baumarkt war, und im Sozialamt habe ich meine Kontolage dargestellt, die sich geändert hatte, weil ich im Baumarkt war. Ich habe meine Kontolage nicht schauspielerisch dargestellt, wie denn auch? Ich müsste mich nackt ausziehen und meine Backen nach außen krempeln. Ich müsste mich zeigen, wie ich bin, nackt, und was ich habe, nichts, mich.«
Kirsten Fuchs erzählt eine Liebesgeschichte, deren unglücklicher Ausgang jedoch schon im Titel verraten wird. Das Klischee von der sich auch in die Beziehungen hineinschleichenden sozialen Kälte wird allerdings unterlaufen. Nicht die arbeitslose Tanja ist die Verhärtete, Liebesunfähige, sondern der zum Zyniker gewordene Eisberg vom Sozialamt, an dem die Liebende zerschellen muss, wenn sie ihn nicht auftauen kann. Während sie auf Peter wartet, spielt sie mit einem Nachbarskind im Hof: »Ich stecke dem Schneemann eine Astgabel in die kalte Faust, wie eine Wünschelrute, mit der er suchen kann, wo es warm ist. Wärme wäre für einen Schneemann gar nicht gut, nein.«
Rückblickend wundere ich mich fast ein bisschen, dass ich damals so empfänglich war für diesen Ton, für diese nüchterne, lakonische Darstellung des nackten Elends. Doch es war eigentlich nur logisch, dass ich zunehmend die Diskrepanz zwischen Literatur und Gegenwart, Fiktion und Realität bemerkte. In jenen Jahren 2002, 2003, 2004 wohnte ich in einer kleinen Wohnung im Frankfurter Gallusviertel, einem traditionellen Arbeiterviertel mit einem Ausländeranteil um die vierzig, fünfzig Prozent. Mit dem Businessstil der Bankenstadt hat man hier nichts zu tun, Bars, Szenecafés oder teure Restaurants gab es hier keine, auch keine Künstler oder Kreativen. Ich war dort hingezogen, weil es billig war und weil die Redaktion direkt um die Ecke lag. Die FAZ liegt wie ein Raumschiff in einem ganz unbürgerlichen Stadtteil.
Von meinem Wohnzimmerfenster aus konnte ich das Hauptgebäude des Verlags sehen. Im Winter 2002/2003 blickte ich jeden Morgen, wenn es noch dunkel war, auf den zehnten Stock, wo die Geschäftsführung saß. Wenn dort im großen Konferenzraum schon sehr früh Licht brannte, was man sehr gut sehen konnte, dann wusste ich, es ist wieder so weit: Es werden neue Sparmaßnahmen beschlossen, vielleicht auch Entlassungen, vielleicht meine. Gerade auch für die Medienbranche waren es harte Zeiten. In den beiden Jahren zuvor waren drei Wellen betriebsbedingter Kündigungen durch den Betrieb gegangen. Ich hatte Glück gehabt, doch viele Freunde und Kollegen hatten ihre Stelle verloren. Wörter wie »Sozialpunkte« oder »Sozialauswahl« hatte ich vor 2002 noch nie gehört, ich dachte, ein Betriebsrat sei ausschließlich für die Organisation der Betriebsfeste zuständig und eine Gewerkschaft gebe es nur für Dreher oder Drucker.
Indem nun die Arbeitsbedingungen der Literaturkritiker selbst prekär geworden waren, lag es auch nahe, dass in der Betrachtung der Literatur plötzlich ein anderes Maß an Bezug zur sozialen Wirklichkeit eingefordert wurde. Und tatsächlich schienen die Autoren auf die neue Lage zu reagieren, jedenfalls konnte man das Soziale finden, wenn man es suchte.
Mitte der Nullerjahre schließlich war die Gegenwartsliteratur weit von den Büchern der neunziger Jahre und ihrem Hedonismus entfernt, freilich auch von deren Verkaufserfolgen. Neben Joanne K. Rowling und Dan Brown waren Tim Mälzer (»Born to Cook«) und Peter Hahne die erfolgreichsten Autoren des Jahres 2005. Hahnes Titel »Schluss mit lustig« immerhin könnte durchaus einen, wenn auch unfreiwillig anders gemeinten Slogan jener Jahre bilden. Wo Hahne aus einer konservativ-christlichen Perspektive mit einer egoistischen, gedankenlosen Spaßgesellschaft abrechnet, da hat sich auch die ernste Literatur von den Oberflächen stilistischer Distinktion und dem Primat der Unterhaltung abgewandt. Neben Arbeitslosigkeit und Armut werden Kriminalität und Gewalt, Alkoholismus, Altern, Krankheit und Tod zu Themen oder jedenfalls zu Hintergrundmotiven und Bühnenbildern literarischer Erzählungen.
Während Kirsten Fuchs im leichten, oft auch komischen Ton die Geschichte einer unmöglichen Nähe erzählt, wählte die westdeutsche Autorin Claudia Klischat in ihrem wie Kirsten Fuchs 2005 erschienenen Debüt »Morgen. Später Abend« ein anderes Genre: die Tragödie. Ihre Geschichte
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