Das kurze Glueck der Gegenwart
und ausgelaugten Zivilisationen, deren Angehörige in den blühenden Ländern Asiens um ein paar Reiskörner vom üppig gedeckten Tisch Schlange stehen. Deutsche, Skandinavier und Niederländer drängeln sich an Pekinger Straßenkreuzungen, um für ein paar Yuan Windschutzscheiben zu putzen, verkaufen stammelnd Rosen in den edlen Szenebars und hausen am Stadtrand in einem gammligen Migrantengetto, in das sich kein Einheimischer traut. Die einst so selbstgewissen Westler kommen nun selbst aus Schwellenländern, »wo sie Treppensteigen üben konnten; doch die Schwellen führten abwärts, nicht aufwärts«.
Albig erzählt die Geschichte von Li Ai, dem Werbefilmer, der einen Werbespot für ein Parfum mit dem Namen »Wald« drehen soll. Er lässt sich vom Märchen von Hänsel und Gretel inspirieren, weil dies für ihn eine verlorene Ursprünglichkeit verkörpert: »›Pfefferkuchen. Ein deutscher Keks. Ein deutsches Märchen‹, legte ich nach. ›Zwei Kinder im Wald.‹«
Doch bei den Auftraggebern, dem Konzern Datong Chemicals, stößt das auf Skepsis: Warum ausgerechnet die finstere Heimat dieser seltsam riechenden Barbaren als Kulisse für ein duftendes Luxusprodukt nehmen? In Deutschland, so erklärt der Regisseur seinen Skeptikern, »hatten sie Häuser aus Gebäck, bevor wir das Land mit unseren Östliche-Morgendämmerung-Schnellrestaurants überzogen haben. Alles war alt und wild.« Ai konsultiert eine Expertin, die aus der »Germania« von Tacitus zitiert, und erinnert sich an Geschichten von »Männern, die der Kultur trotzten, Laub um die Lenden«. Die Deutschen taugen den reichen, saturierten, der Natur entfremdeten Hightech-Chinesen als Inbegriff des Anderen, einer mit dem Wohlstand verlorengegangenen Ursprünglichkeit, als man Neugeborene in Eiswasser badete, rohes Wildschwein fraß und sich mit Met ins Walhalla trank. Also »Wald«, das Original sozusagen.
Jörg-Uwe Albig, Jahrgang 1960, ist ein Experte für die Konstruktion verkehrter Welten. Das Vorgängerbuch »Land voller Liebe« (2006) war wohl einer der originellsten Beiträge zum Wettbewerb um den großen deutschen Wenderoman, indem er den Spieß umdrehte: Ein Unternehmensberater wird zum Held des Rückzugs von 1989, als nicht die DDR , sondern die von Arbeitslosigkeit und geistiger Stagnation zermürbte Bundesrepublik in Massendemonstrationen und Streiks unterging. Erzählerisch ging das überraschend glatt auf, da Albig die Phrasen einer latent totalitären Consulting-Sphäre mit den Sprechblasen der DDR -Reformer überblendete. Selbst mit menschlichem Antlitz hatte der Kapitalismus nie eine Chance.
Den simplen Kniff, der »Land voller Liebe« so mitreißend und auch komisch machte, wiederholt Albig in »Berlin Palace« mit der Vertauschung von Ost und West, zusätzlich plausibilisiert durch eine sanfte Science-Fiction-Variante. Die Olympischen Spiele 2008 sind hier tatsächlich der Auslöser eines neuen »Großen Sprungs« gewesen, der aber, anders als vom Westen erhofft, nicht zu einer Demokratisierung, sondern nur zu einer noch rasanteren technologischen, ökonomischen und auch ökologischen Entwicklung führte.
Albig gelingt es virtuos, den Leser per Verfremdungseffekt zu überrumpeln und ihn an der Seite eines vom Konsumkomfort wie betäubten Ich-Erzählers durch ein blitzsauberes Wunderland von Glas, Licht und Eco-Tech taumeln zu lassen. »Ich fuhr mit Meister Zhao durch die Straßen; es waren begradigte Flüsse, gesäumt von Barcode-Fassaden, von Palmen aus Vietnam.« Vor dem Fenster sieht Ai »Aluminiumpilze aufragen, das Blütendach der Ewig Leuchtenden Bank, die Windfarm auf dem Trapezdach der Hundert-Chrysanthemen-Versicherung. Ich sah den Konzernturm von Maß-und-Mitte-Elektronik. Ich sah, wie sich alles ineinander spiegelte, wellige Schlieren bildete, Oberflächen von Achaten, sah das Diamantfunkeln der Solardächer.«
In der satirischen Zukunftsvision dieser verkehrten Welt, in der die Ökosünder von heute die Saubermänner von morgen sind, bildet Albig ein Phantasma unserer eigenen Epoche ab.
Die Gegenwart lässt sich am besten im Modus der Science-Fiction erzählen. Doch dazu muss ich nicht nur auf der Höhe der Zeit sein, sondern am besten bereits über sie hinaus. So wird ein Szenario darstellbar, in dem technische, ökonomische oder soziale Tendenzen unserer Zeit mit dickem, möglicherweise satirischem Strich in ihren Konsequenzen ausgemalt werden. Es geht ein viel zu großer Teil der raren Ressource Phantasie in das
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