Das kurze Glueck der Gegenwart
Ausmalen ferner Vergangenheiten. Weniger Geschichte und mehr Zukunft – auch das wäre ein begrüßenswerter guter Vorsatz für die deutschsprachige Literatur des gerade angebrochenen Jahrzehnts.
6.Literaturbetriebsbedingte Kündigung: Wie Romane auf die soziale Frage antworten
Wie viel kostet eigentlich eine Barbour-Jacke? Und wie viel eine Nacht im Adlon? In der Literatur der neunziger Jahre spielt Geld keine Rolle. Über Geld redet man nicht, Geld hat man. Wenn Christian Krachts Roman »Faserland« einen Startschuss für die jüngere deutschsprachige Literatur darstellt, dann klingt dieser Startschuss nach einem sehr exklusiven Pferderennen, Romane made in Iffezheim. Der Antiheld des Romans muss sich um seinen Lebensunterhalt keine Sorgen machen, seine Probleme erwachsen geradewegs aus dem exakten Gegenteil. Was tun, wenn man alle Möglichkeiten hat, aber keine Notwendigkeit? Wohin gehen, wenn alle Türen offen stehen?
Das vorherrschende Lebensgefühl der späten Neunziger war eine Mischung aus ungebrochenem Glauben an den Kapitalismus und dekadentem Überdruss am Überfluss. Es war tatsächlich ein neues Fin de Siècle, in dem das geringste Problem die materielle Basis des Ganzen war. Wie die Ökonomie selbst sich von den industriellen Grundlagen, der Produktion und dem Vertrieb materieller Güter zu emanzipieren schien, so war auch die Frage nach Arbeitsplatz und Lebensunterhalt nachrangig geworden.
Der Rahmen der Kreditkarten, mit denen man seine Lines zurechtschob, hatte kein Limit. Das Role Model war der Adelige geworden, der plötzlich wieder in Serie im Kulturbetrieb auftauchte. Wo kamen die nur plötzlich alle her, und wo waren die vorher gewesen? Man konnte sich in die wilhelminische Gesellschaft versetzt fühlen, in die sich die Autorenrunde im Hotel Adlon zurückträumte. Und wer selbst keinen Adelstitel hatte, der benahm sich trotzdem so, als hätte er alles ererbt und für alle Fälle immer noch ein Schloss als Fluchtburg, und die nichtadeligen Möchtegerns waren ja schon immer die viel aufdringlicheren Gestalten. Die Bezeichnung »Snob« kommt ja vom lateinischen »sine nobilitate«, von den bürgerlichen Aufsteigern und Aufschneidern. In den Neunzigern aber konnte man das nicht mehr unterscheiden: Graf Koks lässt bitten und alle kommen und spielen Ritter.
Diese Verschnöselung der jüngeren Literatur hatte auch eine konkrete Seite. Die Vorschüsse, die für Romane junger deutscher Autoren gezahlt wurden, gingen in jenen Jahren durch die Decke. Auf dem Höhepunkt des Jugend- und Popbooms wurden beispielsweise im Jahr 2000 für »Hey Hey Hey«, den ersten (und bis dato auch einzigen) Roman der damals als Modejournalistin arbeitenden Autorin Rebecca Casati, 150000 Mark bezahlt. Nachdem sich im Jahr zuvor »Crazy«, das Debüt des damals erst siebzehnjährigen Benjamin Lebert, 400000 Mal verkauft hatte, durchbrach der gerade volljährig gewordene Autor die Vorschuss-Schallmauer für Nachwuchskräfte: Knapp zwei Millionen Mark hatte nach Branchenschätzungen der Verlag Kiepenheuer & Witsch damals für die kommenden drei Bücher bezahlt (inzwischen sind zwei dieser Bücher erschienen, doch trotz reichlicher Werbebemühungen reichlich sang- und klanglos).
Jungschriftsteller zu werden war Ende der Neunziger also ein ziemlich lukratives Karrieremodell, ungefähr in der Liga von »Internet-Unternehmern«, »Modedesignern« oder »Literaturagenten«. Denn vor allem Letztere haben sich an dieser Blüte des jungen Schreibens eine goldene Nase verdient. Die Agenturen hatten bei solchen Übertreibungen stets einen Vorteil, da das Risiko die anderen trugen. Wenn das überteuerte Buch ein totaler Flop wird, trägt der Verlag den Verlust – und den Autor, der verbrannt ist. Die Agentur muss nur immer wieder neue Gesichter präsentieren.
Diese ganze Blase des leichten, gut verkäuflichen Pop platzte wie die New Economy selbst. Doch es dauerte seine Zeit, bis in der Literatur spürbar wurde, dass die Wirklichkeit der Bundesrepublik ganz anders aussah, und zwar schon lange, vor allem im Osten, der für die meisten nicht von dort stammenden Autoren immer noch Terra incognita war.
Mitte der neunziger Jahre waren auch noch die letzten Reste der ostdeutschen Wirtschaft den Bach runtergegangen. In den letzten Kohl- und frühen Schröder-Jahren erreichte die Arbeitslosigkeit im Osten wie im Westen Rekordstände. Die Arbeitslosenquote lag 1997 bei 12,7 Prozent, eine Zahl, die nur 2005 noch einmal knapp übertroffen
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