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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Gesellschaft buchstäblich vom Nullpunkt, vom Gefrierpunkt her neu aufbauen. Wie »Lost« ist »42« eine moderne Form der Robinsonade, ein postapokalyptisches Szenario, in dem Grundfragen des Menschseins wie im Roman des achtzehnten Jahrhunderts verhandelt werden. Zugegeben, um Kernphysik und Kosmologie geht es hier nur im Hintergrund, aber erzählt wird dennoch auf der Höhe eines zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Weltbilds. Denn auch die Handlung selbst, die Suche nach einer Erklärung für das Geschehene und nach einem Ausweg, folgt der physikalischen Theorie von Paralleluniversen. Auch hier gilt: Die Frage nach dem Stoff bleibt nicht beim Stoff stehen.
    Wer auf die Erfassung von Gegenwart in diesem Sinne aus ist, dem können die Formen, die der gängige realistische Roman anbietet, nicht reichen. Eine chronologische, an zwar verschiedene, aber jeweils klar definierte Beobachterstandpunkte gebundene Mimesis, eine Abbildung simpler Kausalitäten kommt mit der Komplexität der Materie oder eben Antimaterie nicht mehr mit. So ergibt sich aus der Forderung nach wirklich zeitgemäßen Stoffen automatisch eine Forderung nach innovativen oder sogar experimentellen Erzählformen. Dieses »Experimentelle« ist allerdings nicht mehr wie in den Zeiten der Neo- und Spätavantgarden der sechziger und siebziger Jahre eine reine Negation von Psychologie, Kausalität, Plot oder der Logik und Grammatik selbst. Das Experimentelle kann gerade darin bestehen, auf Traditionen und Gattungen zurückzugreifen, die erzählerisch als besonders konventionell gelten: die sogenannte Genreliteratur. Ein missverständlicher Begriff, denn beinahe jede Literatur, auch die größte, gehört zu irgendeinem »Genre«; Vladimir Nabokovs »Lolita« ist eine Road Novel, Joseph Conrads »Lord Jim« ein Abenteuerroman. Es versteht sich von selbst, dass damit gar nichts über die Qualität gesagt ist.
    Es ist sehr auffällig, dass sich die »großen« sozialen und politischen Themen, die vor der Bettlektüre die Nachrichten bestimmt haben, vor allem im Thriller und im Krimi wiederfinden: Gentechnik, Klimawandel und Terror. Zu den interessantesten Strömungen der Gegenwartsliteratur gehört denn auch die Anverwandlung klassischer Genres wie Science-Fiction oder Fantasy. Ein Beispiel ist etwa Dietmar Dath mit seiner Evolutions-Science-Fiction »Die Abschaffung der Arten« (2008) oder der apokalyptischen Finanzkatastrophen-Satire »Deutschland macht dicht« (2010). Darin beschließt eine Gruppe von Experten, Deutschland mit den Mitteln der kosmischen Raumkrümmung von der weltweiten Krise abzuschotten. Die Bankenmetropole wird, physikalisch gestaucht, zum Schauplatz eines Showdowns von kosmologischen Dimensionen. Das ist reichlich Trash, ein bisschen Horror (ein Monster namens »Sumsilatipak« geistert hier herum, also »Kapitalismus« von hinten gelesen) und ein bisschen New-Age-Märchen: Das Geld etwa zerfällt in diesem Armageddon in glibberiges Zeug und die unschuldige Liebe zweier Teenager rettet schließlich die Welt. »Lost« ist nüchterner Naturalismus dagegen.
    Dath, ein großer Science-Fiction-Experte, ist ein Autor, der sehr stark auf internationale Entwicklungen reagiert und in seinem beeindruckend schnell wachsenden Werk die Tendenzen vor allem der amerikanischen Gegenwartsliteratur aufgreift. Einige der bedeutendsten Romane der vergangenen Jahre arbeiten im Genrekontext. »Unendlicher Spaß«, der 1996 erschienene große Medienroman von David Foster Wallace, ist ein Zukunftsroman, ebenso wie Michel Houellebecqs wichtigste Werke, die »Elementarteilchen« (1998) und die »Möglichkeit einer Insel« (2005), oder Jonathan Lethem mit »Der kurze Schlaf« (1995), einem brillanten Gattungsmix aus Science-Fiction und Hard-boiled-Krimi Marke Chandler.
    Vielleicht ist eben die Gegenwart gar nicht der richtige Modus zur Darstellung unserer Gegenwart. Erst im Rückspiegel erkennt man deren Richtung und Drehmoment. Insofern steht uns eine Blüte der Genreliteratur erst noch bevor.
    Ein besonders gelungenes Beispiel dieser Richtung ist Jörg-Uwe Albigs jüngster Roman »Berlin Palace« (2010). Er treibt die Globalisierung auf die Spitze, indem er seine Geschichte im China der dreißiger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts ansiedelt, als die asiatischen Staaten, allen voran das Reich der Mitte, Europa und den Vereinigten Staaten den Rang abgelaufen haben. Die Deutschen gehören wie alle übrigen »Westvölker« zu den verarmten, vergreisten

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