Das kurze Glueck der Gegenwart
bewahren, sich dem Klammergriff des Schicksals entwinden – im Sex, im Rausch, in der Musik. Pate stehen hier die innerweltlichen »Epiphanien« von James Joyce oder die »moments of being« bei Virginia Woolf. Dem Buch ist eine Stelle aus »Mrs Dalloway« als Motto vorangestellt. Diese kühne Fahrt in die zappendustere, nur von jähen Blitzlichtern der Hoffnung durchzuckte Hölle nimmt den Leser gefangen und gibt ihn nur verändert wieder frei.
Von Tragik spricht auch unumwunden Clemens Meyer. Wer über die Rückkehr gesellschaftlicher Abgründe in der Literatur nachdenkt, kommt an diesem Autor schon rein physisch nicht vorbei. Meyer, geboren 1977 in Halle an der Saale und in Leipzig lebend, ist quasi der Türsteher der neuen sozialen Literatur, auch wenn er schon den Begriff »Unterschicht« ablehnt: »Unterschicht, was soll denn das sein? Wer gehört dazu und wer nicht? Die klassischen Schichten gibt es doch längst nicht mehr. Ich beschreibe Menschen, denen es nicht ganz so gut geht, gesellschaftlich und finanziell. Weil es da mehr Tragödienpotential gibt«, sagte er dem »Spiegel« im Interview.
Es mag aus seiner Sicht konsequent sein, das Besondere dieser Literatur herunterzuspielen, trotzdem wirkt Meyer mit seiner kräftigen Gestalt, seinen Tattoos, einem gespielt grobschlächtigen Habitus einer kräftigen, in Fankurven trainierten Stimme mit breitem Sächsisch im deutschen Literaturbetrieb (der zweifellos zu den »klassischen Schichten« gehört) immer etwas wie ein Hooligan, der im Fußballstadion die VIP -Loge aufmischt. Während die domestizierten Zuschauer sich dort bei Häppchen und Prosecco über besonders gelungene Spielzüge und feine Technik auslassen, bringt Meyer eigenes Dosenbier und einen Flachmann mit und zeigt uns halb schockierten, halb faszinierten Edelfedern, worum es wirklich geht: Es ist Krieg. Chemie gegen Lokomotive Leipzig. Alle gegen die Bullen. Schnaps gegen den Durst. »Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass.« In seinem jüngsten Erzählungsband »Gewalten« (2010), ursprünglich als Tagebuch eines Jahres geplant, beschreibt Meyer einmal eine Schlacht zwischen verfeindeten Fangruppen und zitiert ausführlich die übelsten rechtsradikalen »Gesänge«.
Mit seinem Leipzig-Wenderoman »Als wir träumten« hatte Meyer 2006 das bis dahin brachliegende Feld des Ostproletariats ganz alleine und eigenhändig umgepflügt. Dem Genre nach ist »Als wir träumten« ein Adoleszenzroman: Er erzählt vom Schicksal einer Gruppe von Freunden von der späten Kindheit bis zum jungen Erwachsensein. Das Ende der Pubertät fällt in ihrem Fall (und in dem von Meyer selbst natürlich) mit der Wende zusammen: Man wird erwachsen in einer Welt, in der nichts mehr von dem gilt, was man als Kind gelernt hat – eine generationelle Prägung, für die Jana Hensel den Begriff »Zonenkinder« durchgesetzt hat.
Die Clique von Freunden erlebt, wie aus harmlosen Streichen blutiger, lebensverändernder Ernst wird, wie jugendlicher Leichtsinn in tödliche Verantwortungslosigkeit umschlägt. Seine Geschichte, die vom Setting und von ihrer Power her an Filme wie »Stand By Me« oder vor allem Sergio Leones Mafia-Epos »Es war einmal in Amerika« erinnert, ist in ihrer Struktur nicht weniger ehrgeizig als die von Claudia Klischat. Auch bei Meyer wird nicht chronologisch erzählt, seine Geschichte hat er in Dutzende Splitter zerschlagen, in denen sich der Leser erst einmal zurechtfinden muss. Doch sind die einzelnen Kapitel zugleich wie abgeschlossene Kurzgeschichten lesbar. Der Leser stößt nicht auf Rätsel und wird abgeschreckt, sondern vielmehr mit ins Geschehen und die Lebensgeschichten der Figuren hineingezogen.
Ist das nun die Entdeckung der ostdeutschen Verlierer oder doch eine gesamtdeutsche Geschichte? Clemens Meyer selbst will das so sehen. Auf die Frage des »Spiegel«, ob er andere Geschichten schreiben würde, wenn er statt in einer Leipziger Plattenbausiedlung in einem Hamburger Villenviertel aufgewachsen wäre, sagte er: »Vielleicht schon. Ich dachte halt früher immer, dass die Leute, über die ich schreibe, das eigentlich auch lesen müssten. Und teilweise ist das auch so. Nicht nur Leute, die in meiner Gegend leben und mich kennen. Ich habe mal einen Brief von einem Mechaniker aus Bottrop bekommen, der hatte meinen Roman gelesen und war ganz begeistert. Der hatte es früher auch wild getrieben.«
Sind das soziale Elend und die aus der Armut und Chancenlosigkeit entstehenden Schicksale
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