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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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»Abschied von der Nachkriegsliteratur«, der in den Feuilletons für west- wie ostdeutsche Schriftsteller gleichermaßen ausgerufen wurde, entsprach aber durchaus einer weitverbreiteten Stimmung vor allem jüngerer, nachwachsender, nicht in der klassischen Zeit der theorielastigen Suhrkamp-Kultur sozialisierter Leser, die mit neuer deutscher Belletristik nichts mehr anzufangen wussten, lieber ins Kino gingen oder Amerikaner lasen. Die Gegenwartsliteratur drohte den Anschluss zu verpassen und es selbst nicht einmal zu bemerken. Ein um sich selbst kreisender Literaturbetrieb gefiel sich in einer etwas elitären, gegenüber dem breiten und jüngeren Publikum abgeschotteten Igelstellung. Man diskutierte den neuen Essay von Botho Strauß oder erwartete den neuesten Handke wie eine Offenbarung. Hier die heiligen Hallen der Literatur, draußen bleiben mussten der Pop, das Fernsehen, der »Zeitgeist« und die Mode, aber auch das Journalistische und Tagesaktuelle. Die Gräben zwischen E und U waren immer noch tief.
    Eine kurze Erinnerung an die Achtziger: Als 1984 der »Stern« erstmals eine Bestsellerliste veröffentlichte, fanden sich darauf neben dem gerade verfilmten Verkaufsschlager »Die unendliche Geschichte« gleich noch zwei weitere Werke von Michael Ende, der damals mit seinen kulturkritischen Ökomärchen auf dem Gipfel seiner Popularität stand. Als »Fräuleinwunder« konnte man bestenfalls eine Kristiane Allert-Wybranietz mit ihren Geschenkbüchern bewundern. Doch riesige Verkaufserfolge wie die von Johannes Mario Simmel oder auch Günter Wallraffs »Ganz unten« zeigten das Dilemma: Die Leser wollten durchaus Welt und Gegenwart, die aber tauchten – in Deutschland – nur in Genres oder Reportagen auf. Einen Ausweg bot die (von der Kritik heftig angefeindete) Postmoderne: Umberto Ecos »Name der Rose« und Patrick Süskinds »Das Parfum« beherrschten die Bestsellerlisten, während der Literaturbetrieb über die Borchardt-Rezeption von Botho Strauß debattierte oder in beamtenhafter Literaturpreisroutine erstarrt war. Ansonsten herrschte überall Endzeitstimmung: Wettrüsten und Tschernobyl und Waldsterben; mit Thomas Bernhards letztem Roman »Auslöschung« (1986) und Christoph Ransmayrs Bestseller »Die letzte Welt« (1988) war das Erzählen ans Ende gekommen: Posthistoire. End of history.
    Wenige Jahre später kamen die »Wiederkehr des Erzählens«, die »Popliteratur«, das »Fräuleinwunder«, sechsstellige Vorschüsse für Debütanten, die gerade vorher noch Journalisten gewesen waren, aber auch anspruchsvolle deutsche Literatur auf den Bestsellerlisten. Diesen radikalen Umschwung innerhalb weniger Jahre kann man nicht einfach durch eine neue Generation von Autoren erklären. Das griffe zu kurz. Vielmehr ist es auch ein Niederschlag der Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre, die zu einer enormen Ausweitung der potentiellen Leserschaft geführt hat. Die durch die Gymnasien und Gesamtschulen (und danach durch geisteswissenschaftliche Studiengänge der Massenuniversitäten) geschleusten Kinder auch traditionell bildungsferner Schichten haben sich in den Achtzigern erstmals zu einer kritischen Masse an neuer Leseröffentlichkeit akkumuliert. Ein Publikum jenseits des herkömmlichen Bildungsbürgertums.
    Heute studieren in Deutschland insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen, davon sind die Hälfte Frauen, die ja unter den Käufern und Lesern belletristischer Literatur die absolute Mehrheit stellen. 1988, dem Jahr, in dem ich anfing zu studieren, war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen noch zwei zu eins gewesen, bei einer Gesamtzahl von eineinhalb Millionen. 1970 hatten in der Bundesrepublik erst 410000 Menschen studiert (im europäischen Vergleich noch wenige), 1975 gab es dann 680000 und 1982 sogar über 930000 Studenten.
    Die Massivität, mit der das lange dem Bürgertum vorbehaltene Studium auch Aufsteigern zugänglich wurde, veränderte auch das akademisch gebildete Publikum: Der Kulturbetrieb öffnete sich dem Pop, mit dem in den siebziger und achtziger Jahren praktisch jeder sozialisiert worden war. Eine Trennung zwischen E und U, wie sie der Literaturbetrieb noch lange aufrechterhielt, war überholt. Wie der klassische Cineast in den Neunzigern durch den großstädtischen Kinogeher ersetzt wurde, so der strenge Modernist durch den toleranteren Postmodernen, der die Erzählbarkeit der Welt immerhin mit ironischem Augenzwinkern für möglich hält.
    Eine proletarische

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