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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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kosmotheologisches Weltmodell.
    Und es ist ja richtig: Erfahrungen kann man überall machen, erst recht existentielle Grunderfahrungen wie die Liebe und deren Verlust, die Gottesnähe oder eben auch -ferne. In Burkhard Spinnens grandiosem Angestelltenroman »Langer Samstag« (1995) ist es der Supermarkt einer westdeutschen Provinzstadt vom Zuschnitt Güterslohs, Bielefelds oder Mindens, in dem der Verwaltungsjurist Ulrich Lofart der Frau begegnet, die sein Leben verändern wird. Diese Dorothee lernt er »im dritten Quergang« kennen, in der »Abteilung für Fertiggerichte«. (David Wagner wird das in seinem Roman »Vier Äpfel« radikalisieren, hier besteht die gesamte Rahmenhandlung des Romans im Gang durch einen Supermarkt, der allerdings wie eine Gedächtsnisarchitektur funktioniert und eine verlorene Liebe heraufbeschwört.)
    Dieser Lofart also, siebenunddreißig, ist seit Jahren Junggeselle, ein Mann, der sich in einem ereignislosen Leben eingerichtet hat und dem Schicksal mit Resignation begegnet: »Überhaupt, dachte Lofart, Bienenstich ist seit langem eine Enttäuschung.« Lofart verliebt sich in Dorothee, man geht zusammen einkaufen, dann ins Kaufhausrestaurant Pasta essen, schließlich zum Fußball und ins Bett. Während Lofart, aus dessen Sicht das ganze scheinbar alltägliche, in Wahrheit aber revolutionäre Geschehen erzählt wird, an einem Bericht arbeitet, der in seinem Unternehmen die Rationalisierung der eigenen Abteilung vorschlägt, wird sein Leben zunehmend irrationalisiert. Bei einem Besuch in der Chefetage hängt er für Dorothee ein Tuch als Liebesbotschaft aus dem Toilettenfenster, am Selbstmordversuch einer seiner Mitarbeiterinnen nimmt er persönlich großen Anteil und bietet sich als Lebenshelfer und Therapeut an. Am Ende nehmen die Vorgesetzten sein Konzept zur Selbstabschaffung an.
    Der Roman erzählt von der Radikalisierung einer Beamtenexistenz, der Umwälzung der bis dahin gültigen Lebensmaßstäbe. Die Liebe zu Dorothee ist für Lofart wie ein Katalysator, der eine ansonsten ausbleibende Reaktion in Gang bringt: Am Ende des Romans nimmt er das Angebot an, sich in die neuen Länder versetzen zu lassen – ein Aufbruch ins Unbekannte. In der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung von Dorothee und Lofart hat der an Wirtschaftlichem stets interessierte Spinnen den Gegensatz von zwei Unternehmensmodellen veranschaulicht: Während Lofart noch in den klassischen Strukturen eines Großkonzerns arbeitet, ist Dorothee, die Unternehmensberaterin, schon Teil einer neuen, schnelllebigen und sich rasant verändernden New Economy. Privat spekuliert sie mit Aktien, als sie Lofart zu einem Einstieg überreden will, ergibt sich ein erster Riss zwischen ihnen: »›Du, ich mache nicht gern Grundsatzerklärungen. Aber am besten ist: alles geht so Schritt für Schritt.‹ Sie ließ Zeige- und Mittelfinger wie zwei Beine über den Gartentisch laufen. ›Sonst kann man es wahrscheinlich lassen. Auch privat.‹«
    Spinnen hält unsere Konsumwelt genau in dem Moment fest, als ihre Ordnung sich auf den ganzen Osten Europas auszudehnen im Begriff ist, eine Welt, in der die Beständigkeit der Marken dem Leben eine Sicherheit und einen Rahmen verleiht: »›Bitte?‹, sagte die Kellnerin. ›Eine Fanta. Eine doppelte Fanta in einem großen Glas.‹ – ›Und der Herr?‹ – ›Danke. Nichts im Moment.‹ – ›Es muss aber auch Fanta auf dem Glas stehen‹, sagte Dorothee. ›Mit Bläschen rund um den Namen.‹«
    In »Trauben fliegen auf«, dem Roman der letztjährigen Buchpreisgewinnerin Melinda Nadj Abonji, ist die jugoslawische »Traubisoda« das Getränk, an das sich die verklärenden Kindheitserinnerungen des in die Schweiz emigrierten Mädchens heften. Der Bruch, die Entwurzelung, die erst die literarische Herkunftsangabe in Gang setzt, kann sehr unterschiedliche Formen haben. Während Burkhard Spinnen eine nivellierte Arbeitswelt und Konsumgesellschaft schildert, in der es eigentlich gleichgültig ist, in welchem Ort der bundes-, ja europaweit identische Supermarkt steht, ist es in den Erzählungen von Migranten der Konflikt zweier asynchron tickender Kulturen. Der Dramatik der Vergangenheitsbeschwörung und Heimaterkundung tut der objektive Grund aber keinen Abbruch. Das ist das Paradox der Herkunftsliteratur: Ihre Stärke liegt nicht in einer irgendwie mess- oder vergleichbaren Härte des Verlusts, sondern einzig in der Phantasie, mit der das Verlorene wiederhergestellt oder durch Fiktionen ersetzt

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