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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Komik und Peinlichkeit auf grandiose Weise. Eine herbstliche Bahnfahrt (»über die trüben Milchglassscheiben wanderten schwarze Attrappen von Regentropfen«) wird ebenso zum Wahrnehmungsereignis wie eine Radtour im Sommer: »Das Rad steuerte von selbst durch die Landschaft mit ihren üppigen Wolkengebirgen, in der Ferne Siedlungen, Berghänge, dick bestrichen mit einer Schicht blühender Bäume. In der Ferne rauschte ein flimmernder Streifen Autobahn. Und über der ganzen Szenerie kreiste ein kleines, graues Zeppelinjunges auf der Suche nach seiner Herde.«
    Das ist alles andere als eitle Sprachverliebtheit, wie man an der letzten Passage gut erkennt, in der Setz in der simplen Beobachtung eines Flugobjekts wie nebenbei sein zentrales Motiv umspielt: das Individuum im ebenso destruktiven wie rettenden Kraftfeld der Familie. Über siebenhundert Seiten hinweg ist das Buch durchzogen von solchen emblematischen Bildern und Spiegelungen.
    Am plakativsten wirkt der kleine Hund, der einsam durch die Handlung tapst und dem Setz in welpenhaftem Übermut gar eine eigene Stimme verleiht. (Auch die Hundenase arbeitet auf Gebieten jenseits des menschlichen Wahrnehmungsspektrums.) Und so sarkastisch und schonungslos Setz Familien und Beziehungen zergliedert – die universelle Zerrüttung hat nicht das letzte Wort. Während Walter das atonale Chaos in seinem Kopf nicht mehr sortiert bekommt, ergeben sich für Alexander eine merkwürdige Wiederbegegnung mit seinem fahnenflüchtigen Vater und eine papierdünne Ahnung von Hoffnung.
    Obwohl der Titel auf die Mutter aller neueren Familienromane, auf Jonathan Franzens »Die Korrekturen«, anspielt, ist für Setz wohl eher David Foster Wallace eine geistige Vaterfigur. Auch ihm gelingt der Brückenschlag von spielerischer Konstruktion zum sozialkritischen Blick (auf das Altersheim und die Therapiegruppe etwa). Aber auch seine Familien sind in ihrer Mischung aus Genie und Klapsmühle ferne Verwandte der Incandenzas aus »Unendlicher Spaß«. Clemens J. Setz ist Jahrgang 1982; als Wallace’ genialischer Debütroman »Der Besen im System« erschien, 1987, war er fünf Jahre alt und doch ist er sein wichtigster Leser.
    Ein anderer ist Thomas von Steinaecker, geboren 1977. Wie man den Generationenroman nach allen Regeln der Kunst vom Kopf auf die Füße stellen kann, demonstriert er in seinem virtuosen Debüt »Wallner beginnt zu fliegen« (2007). Die Geschichte der Wallners beginnt in der Gegenwart mit dem Unfalltod des Familienoberhaupts bei einer Zugkatastrophe. Von diesem Prolog aus wird die Familiengeschichte über drei Generationen chronologisch vorangetrieben – nicht zurück, sondern in die Zukunft, bis etwa ins Jahr 2070. Jede Generation – der Unternehmer Stefan Wallner, der Popstar und Musikproduzent Costin und schließlich die Literaturwissenschaftlerin Wendy – wird für einen Romanteil zum Erzähler. So beginnt das Buch als Wirtschaftsroman, wird dann zu einem Remix des desillusionierenden Künstlerromans, um am Ende eine lesbische Identitätssuche zu schildern. Jeder Teil könnte als Parodie eines anderen Genres funktionieren. Genial ist, wie alle drei zusammen dem Familienroman eine neue und sehr ernsthafte Variante abgewinnen, in der die fast unaufhebbare Distanz zwischen den Generationen ebenso sichtbar wird wie die gleichzeitige Unentrinnbarkeit familiärer Prägungen: Familie ist immer beides: aufdringliche Nähe und kälteste Distanz.
    Während der Manager Stefan Wallner der Wahnvorstellung verfällt, gegen ihn sei eine Firmenintrige im Gang, und am Ende in ein Doppelleben in Paris flüchtet, lebt sein als Kind schon unerreichbarer Sohn Costin über das Sprungbrett einer Castingshow seine Starträume aus. Doch je mehr er in den Scheinwelten des Showbiz verschwindet, desto ähnlicher wird er seinem verstorbenen Vater. Dem »Psychostress der Vergangenheit« weicht Costin dabei bewusst aus; die Flucht vor der Familie geht stets Hand in Hand mit partiellem Realitätsverlust. Erst gegen Ende seines Lebens taucht aus dem Nichts eine Tochter auf, die er einst nach einer Show mit einem der zahlreichen weiblichen Fans gezeugt hat. Ausgerechnet sie gibt seinem Leben neuen Sinn.
    Und diese Wendy, die quasi zufällig zur Familie stößt, beginnt nach Costins Tod mit einer minutiösen Rekonstruktion der Familiengeschichte, angefangen mit dem ICE -Unglück ihres Urgroßvaters: Der ganze Roman entpuppt sich am Ende als eine rückblickend aus der Perspektive der siebziger Jahre

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