Das kurze Glueck der Gegenwart
Biederkeit ist, seine Frau betrügt, dann bricht auch die mit aller Kraft aufrechterhaltene Anthroposophen-Scheinwelt von Judith zusammen. Ein Roman, bei dem am Ende nicht mehr viel bleibt, darin ist Anna Katharina Hahn vielleicht sogar radikaler als Franzen, der dann doch (typisch amerikanisch?) zur Versöhnlichkeit neigt.
Eine angenehme Lektüre, zumal für lange, kalte, dunkle Winternächte, ist das nicht. Aber es gibt nicht viele deutsche Autoren, denen man zutraut, dass sie einen so bösen und genauen Gesellschaftsroman schreiben können, wie Jonathan Franzen es im vergangenen Jahr mit »Freiheit« ein weiteres Mal getan hat. »Kürzere Tage« ist da nur ein Anfang, ein Versprechen. Aber viel länger und sonniger werden die Familiennachmittage in der Literatur nicht mehr werden. Yes, we can.
Die Familie ist eine Realität, der die Literatur nicht entkommt, auch nicht, indem sie einfach so tut, als garantiere schon das Standesamt die erzählerische Kontinuität und es reiche aus, eine Romanhandlung an der Generationenfolge entlang zu entwerfen. Um die komplizierte zeitgenössische Dialektik aus Zerfall und Behauptungswillen darzustellen, bedarf es aber einer ähnlich prekären und ambivalenten Erzählweise. Die Familiengeschichte ist, wie David Foster Wallace, Setz, Steinaecker und Hahn zeigen, immer noch eine der vitalsten Möglichkeiten des Zeitromans. Ihre Form aber ist eben nicht selbstverständliche Folge von Erbschaft und Verwandtschaftsverhältnis, sondern eine erfolgreiche Selbstbehauptung der Mütter und Väter gegen ihre eigenen Eltern. Gegen die Herkunft.
8.Herkunftsangaben: Vom Provinz- zum Migrationsroman
Ich kenne in Berlin niemanden, der hier tatsächlich geboren ist. Deswegen sind alle von hier. Doch jeder bringt seine Herkunft mit, ob er sie nun im Akzent ständig mit sich herumträgt oder nur zu bestimmten Jahreszeiten – der Münchner zur Wiesn-Zeit, der Kölner zum Karneval – heraushängen lässt. Provinz, das ist eine Kategorie des französischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts: Wer von anderswo stammte, hatte in Paris nichts verloren. In Berlin sind dagegen eher die echten Berliner die Provinzler.
Dieser schroffe Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie ist aber literarisch produktiv, denn schon durch den Kontrast sind die enge Welt der Herkunft, ihr Anachronismus, das Zurückbleiben hinter dem erreichten urbanen Standard von Liberalität und Weltoffenheit eine Beschreibung wert. Je beschränkter die Verhältnisse der eigenen Heimat (von der man sich längst gelöst zu haben glaubt), desto mehr scheinen sie sich automatisch und unüberformt zum literarischen Stoff zu eignen. Solche Erzählweisen folgen immer noch dem Modell des deutschen Entwicklungs- und Bildungsromans, dem »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz, in dem die unfassbare, bedrückende Enge des pietistischen Milieus zum Triumph des Erzählers wird. Unzählige Kindheits- und Antiheimatromane erscheinen bis heute als Variationen dieses Modells.
1989 sprach der damalige FAZ -Literaturchef Frank Schirrmacher von dem Versagen der Metropole und warf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihren Provinzialismus vor. Seine Diagnose war, lässt man die von der »seriösen« Literaturkritik ignorierte Popliteratur der Achtziger um Peter Glaser oder Rainald Goetz außen vor, vollkommen richtig. Und obwohl es in den zwanzig vergangenen Jahren sehr viel ganz Neues in der Literatur gegeben hat, ist immerhin die Tendenz weiterhin zutreffend. Einmal ins Positive gewendet: Eine der stärksten Strömungen der deutschsprachigen Literatur ist die mikroskopisch genaue Vermessung allerkleinster Herkunfts- und Lebenswelten. Arnold Stadler, Josef Winkler, Frank Schulz, Peter Kurzeck, Karl-Heinz Ott – alle diese Autoren exzellieren in einer obsessiven Beschäftigung mit einer Topographie der Erinnerung. Selbst in der komischen Variante triumphiert das Landleben, von Rocko Schamonis »Dorfpunks« (2004) bis Heinz Strunks »Fleisch ist mein Gemüse« (2004). Der aus Bad Nauheim stammende, jetzt im benachbarten Frankfurt lebende Andreas Maier hat gerade angekündigt, der Wetterau, in der schon sein stark unter dem Einfluss Thomas Bernhards stehendes Debüt »Wäldchestag« (2000) spielte, einen zehnbändigen Romanzyklus widmen zu wollen. Das erste Buch »Das Zimmer« ist im Herbst 2010 erschienen, bald sollen »Das Haus«, »Die Straße« und so weiter folgen, bis hin zum letzten Band, der Gott gewidmet ist: die Heimat als
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