Das kurze Glueck der Gegenwart
wird: Überzeugungskraft gleich Einbildungskraft mal Sprachenergie.
Wer sollte beispielsweise irgendeinen Deut auf Kall geben? Oder auf Prüm? Oder die Urft?
Kall in der Eifel, aktuelle Einwohnerzahl 11708, gelegen an der Bahnstrecke zwischen Köln und Trier, ist ein Literaturort, dessen imaginäre Größe die reale Existenz inzwischen weit überragt. Dieses erzählte Kall ist das Resultat eines beinahe irritierend beharrlichen Lebenswerks. Der 1951 in Prüm geborene Norbert Scheuer hat seit seinem Debüt »Der Hahnenkönig« von 1993 einen ganzen Kosmos von Geschichten in die urwüchsige, aber wenig anheimelnde Eifellandschaft gebettet. Wahrscheinlich muss man es umgekehrt sagen: Scheuer hat die mythische Vielfalt seines Figurenarsenals dem Ort seiner Kindheit abgewonnen, das Andrängen der Erinnerung in Storys kanalisiert. Seine Romane »Der Steinesammler« (1999) und »Flußabwärts« (2002) ließen schon erkennen, welche poetische Naturbegabung buchstäblich vor der eigenen Haustür ihren kongenialen Stoff gefunden hat.
Schlicht »Kall, Eifel« hatte Scheuer als Hommage an Sherwood Andersons modernen Klassiker »Winesburg, Ohio« seinen großartigen Zyklus von Kurzgeschichten betitelt, der 2005 erschien und eine ideale Form für die einander kreuzenden Biographien und Beziehungen bot. Das war ein Unglücksreigen von Menschen, die nirgendwo anders als eben hier, in diesem verfluchten und geliebten Kall, leben können und doch daran früher oder später zugrunde gehen. Ungelebte Leben, nicht erkannte oder leichtfertig verspielte Möglichkeiten des Glücks, illusionäre Hoffnungen, Selbstbetrug und Selbstzerstörung – das ganze Spektrum menschlicher Existenz bildet Scheuer in seinen nur scheinbar simpel gestrickten Figuren ab.
Sein bislang jüngster Roman »Überm Rauschen« (2009) setzt dieses Projekt fort. Der Erzähler, Mitte vierzig, kehrt nach Jahren der Abwesenheit in seinen Heimatort zurück, wo die Familie oder was von ihr übrig ist, eine mehr schlecht als recht laufende Gastwirtschaft betreibt. Die Mutter liegt dement im Heim, der Stiefvater ist lange tot, sein älterer Bruder, stets ein Sonderling, droht dem Wahnsinn zu verfallen. Daher ist der Erzähler zurückgekehrt, die älteren Schwestern wissen sich nicht mehr zu helfen und so wird er seinem Vorsatz untreu, mit der Familie nichts mehr zu tun haben zu wollen: »Tante Reese hatte uns früher einmal erzählt, dass nur zwei Männer aus der Familie diesen Landstrich verlassen hatten, das waren zum einen mein Onkel Jakob Arimond, der im Krieg nach Sibirien verschleppt worden, dort aus einem Gefangenenlager geflohen und zu Fuß bis nach Hause zurückgelaufen war, zum anderen mein Bruder Hermann, der nach Jahren als Seemann auf allen Ozeanen dieser Erde auch wieder zurückgekehrt war.«
Beim Fischen im Fluss – durch Kall fließt die Urft – beschwört der Heimkehrer die Welt der Kindheit herauf, vor der er einst floh, die totale Entfremdung der Eltern, die Trunksucht des Vaters, die aus Trauer geborene Liebesunfähigkeit der Mutter, die notorischen Geldsorgen, die dörfliche Enge. Den krank machenden Verhältnissen steht die glitzernde Welt der Fische gegenüber, eine zeitlos-mythische Natur, in die nach dem Vater nun der Bruder flieht. Dessen obsessive Jagd nach dem »großen Fisch«, einem urzeitlichen Fabelwesen, wird zum Symbol eines illusionären Sinnverlangens, das, gibt man ihm konsequent nach, dem Wahn die Schleusen öffnet. Der (nicht »das«) »Rauschen« des Titels ist ein Wehr neben dem Haus der Kindheit, wo der Fluss für die Mühle gestaut wird. Der Rauschen ist zugleich der Abgrund der Verzweiflung, dessen Sog jeden bedroht, die Urft ein Strom der Phantasie und des Traums: »Der Fluss ist eine Matrize, auf der sich alles unentzifferbar einritzt – für uns bleibt es danach verborgen –, aber ich weiß, dass es dennoch da ist, man kann es ahnen und träumen, vielleicht wissen die Fische es auch.«
Norbert Scheuer ist einer jener Besessenen, von denen die deutschsprachige Literatur nicht wenige hat. Viele Fäden früherer Bücher werden in »Überm Rauschen« wieder aufgenommen, verwandelt und weitergesponnen. Manche Geschichten versteht man nur, wenn man die früheren Bücher kennt, die Puzzlestücke der Biographien zusammensetzen kann. Vor allem aber treibt Scheuer eine Poetik konsequent voran, die im Kern eine theologische ist: Es gibt nichts ganz und gar Unbedeutendes, weder unter den Menschen noch unter den Orten oder den
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