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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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unseres Jahrhunderts geschriebene Wurzelsuche. Steinaecker hat aber keinen Science-Fiction-Roman geschrieben – wo die Zukunft der Familie konkret ausgemalt wird, ist sie der Gegenwart verdammt ähnlich.
    In beiden Familienromanen, die vor allem auch Väter-Söhne-Romane sind, wird das Thema auch auf literarische Vaterschaften übertragen. Der Einfluss von David Foster Wallace ist überdeutlich. Bei Steinaecker kommt noch Ernst-Wilhelm Händler dazu. Der erste Teil von »Wallner beginnt zu fliegen« ist ganz in einem ähnlichen Ton und in ähnlicher Perspektive wie Händlers zuvor schon beschriebene Wirtschaftsromane »Fall« oder »Wenn wir sterben« gehalten. Händler selbst hat wiederum in seinen Büchern oft Anspielungen auf Autoren wie Thomas Bernhard eingebaut. Also wäre Steinaecker, einflussmäßig gesehen, schon ein Enkel. Die Literatur ist selbst eine Familie, in der sich die Autoren an dominanten Übervätern abarbeiten müssen.
    Einer der besten Romane aus jüngerer Zeit über Eltern und Kinder kommt, fast überraschend, nicht aus Prenzlauer Berg, sondern aus Stuttgart. Vielleicht ist die spezielle schwäbische Spießigkeit, die Tyrannei nachbarschaftlicher Intimität, diese Mischung aus Kehrwochenwahn und pietistischer Gewissenserforschung, hilfreich zur Schärfung der Kontraste, während etwa im eher schroffen und im positiven wie im negativen Sinne gleichgültigen Berlin die Konflikte eher verdeckt werden können. Auch in Berlin sind Eltern und Nichteltern, Schon-Bürger und Noch-Boheme nach Stadtvierteln aufgeteilt. Aber in Prenzlauer Berg lässt sich immer noch ein Familienleben führen, das sich noch der Illusion hingeben kann, mit urbaner Entspanntheit und Stilsicherheit, Coolness und fortgesetzter Nachtlebentauglichkeit vereinbar zu sein. Auch weil hier fast niemand »von hier« ist und zudem eine (selektive) Internationalität auch bei der Rückbildungsgymnastik oder in der Sandgrube das Gefühl von Weltläufigkeit garantiert.
    Die 1970 geborene Stuttgarterin Anna Katharina Hahn hat ihren ersten Roman in einem soziologisch genau umrissenen Milieu angesiedelt. Die Stuttgarter Constantinstraße steht für ein alternativ-bürgerliches Milieu, in dem man die Kinder vor den schädlichen Einflüssen des Fernsehens schützt und die Segnungen der Waldorfpädagogik für absolut zwingend hält. »Kürzere Tage« (2009) porträtiert zwei Familien, die sich nicht nur räumlich, auf den beiden Seiten der Straße gegenüberliegen. Zwei Paare, je zwei kleine Kinder, die einander in die Fenster sehen können und jeweils in der anderen Familie jene heile Welt vermuten, die sie sich selbst nicht mehr abnehmen. Die beiden Frauen sind die Hauptfiguren, aus ihrer Sicht wird das schmale Buch hauptsächlich erzählt, das ähnlich wie Hettches »Liebe der Väter« im dramatisch zugespitzten Handlungsaufbau und der leitmotivischen Struktur eigentlich eine verkappte Novelle ist.
    Das Buch könnte eigentlich auch gut »Die Liebe der Mütter« heißen: Judith, die seit ihrer Studienzeit ihre Tablettensucht verbirgt und vor ihren eigenen Abgründen und Begierden in die Ehe mit dem brav-langweiligen Klaus geflüchtet ist. Die höhere Tochter Leonie, die sich den im Innern der Halbstarke gebliebenen Aufsteiger Simon geschnappt hat, jetzt unter seinem Renommiergehabe leidet und, weil im Bett nichts mehr läuft, für Affären anfällig ist, wofür sie sich selbst hasst.
    Während einiger Novembertage kurz vor Halloween entwickelt »Kürzere Tage« wie in einer Kettenreaktion ein dramatisches Geschehen, in dem die Lebenskonzepte beider Frauen einer Prüfung unterzogen werden. Stoff und Handlung des Romans sind alles andere als originell, er folgte dem Muster: Hinter bürgerlichen Fassaden bröckelt es gewaltig, was zum Stuckaltbau mit Fischgrätparkett atmosphärisch passt. Doch die Stärke des Romans liegt in der absolut, beinahe stadtsoziologisch präzisen Beschreibung der verschiedenen Milieus. Die Kernhandlung wird außerdem vielfach gespiegelt – in dem alten Aussiedlerehepaar, das scheinbar ganz spießig lebt, aber zugleich eine Möglichkeit von dauerhaftem Lebensglück darstellt, in der Nachbarin Hanna, einer überversorgenden Mutter mit Helfersyndrom, die ihren eigenen Sohn heimlich vergiftet, im Proletenkind Marco, dessen Amoklauf der ganzen Mittelschichtsidylle einen apokalyptischen Unterton beimischt. Wenn sich schließlich beiläufig herausstellt, dass ausgerechnet Klaus, der schon durch seinen Namen Inbegriff der

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