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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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auch allein.
    Als ich größer wurde, habe ich angefangen, immer öfter zu schwänzen. Wenn Bayle mich fragte, wo ich gewesen war, log ich das Blaue vom Himmel runter, meine Mutter wäre krank und ich hätte für sie einkaufen müssen, ich hätte meine Großmutter verloren, mir beim Rennen den Knöchel verstaucht, ich wäre von einem tollwütigen Hund gebissen worden und hätte zum Doktor gemusst.
    Ich übte mich darin, zu lügen und ihm dabei direkt in die Augen zu schauen. Das ist schwerer, als es aussieht, wenn man erst zehn und noch nicht so breit in den Schultern ist. Aber es hat mich Mut gelehrt. Das ist wichtig im Leben.
    Bayle war sowieso heilfroh, wenn ich fehlte. So brachte ich wenigstens keine Unruhe in die Klasse, und für ihn war es wie Ferien, wenn er nicht die ganze Zeit brüllen musste: » Chaazes , können Sie wiederholen, was ich gerade gesagt habe?«, wobei er genau wusste, dass ich es nicht konnte. Wie auch immer, am Ende der Grundschulzeit war ich öfter beim Angeln als in der Schule. Und so kam es auch, dass man mich später in der Armee als »Analphabet« eingeordnet hat, ein Wort, das höflich ausdrückt, was man über mich dachte, nämlich dass ich doof war.
    Zu der Zeit, von der ich vorhin erzählte, am Anfang mit Annette, da begriff ich nicht viel vom Leben. Und es störte mich auch nicht weiter. Ich stellte mir keine Fragen. Im Bett kam ich auf meine Kosten, und ansonsten spielte ich Karten, gab mir jeden Samstagabend die Kante und nüchterte dannim Lauf der Woche wieder aus. Wenn ich Kohle brauchte, arbeitete ich auf Baustellen. Alles kam mir einfach vor. Zwischen »leben« und »das Leben verstehen« gibt es nicht unbedingt einen Zusammenhang, wissen Sie?
    Es ist wie mit Autos: Wenn man Sie auffordern würde, den Zündverteiler, einen Kardanantrieb oder den Keilriemen auszuwechseln oder von mir aus auch nur Öl nachzufüllen … was dann? Die meisten Leute, die Auto fahren, haben keine Ahnung davon, weder vom Wie noch vom Warum. Mir ging es genauso mit dem Leben. Ich hielt das Steuer, schaltete hoch und runter, tankte, aber das war auch schon alles.
    Als ich Margueritte begegnet bin, fand ich es erst kompliziert, mir Wissen anzueignen. Dann interessant. Und dann unheimlich, denn mit dem Nachdenken anzufangen ist etwa so, wie wenn man einem Kurzsichtigen eine Brille gibt. Alles ringsherum kam einem immer ganz okay vor – einfach weil es unscharf war. Und dann plötzlich sieht man die Risse, den Rost, die Mängel, alles, was bröckelt. Man sieht den Tod, die Tatsache, dass man alles eines Tages verlassen muss, und das nicht unbedingt auf die lustigste Art und Weise. Man kapiert, dass die Zeit nicht nur vergeht: Sie schubst uns mit beiden Händen jeden Tag ein bisschen weiter dem Tod entgegen. Es gibt nicht mal eine Gratisrunde auf dem Karussell zu gewinnen. Man läuft seine Platzrunde, und das war’s: Man tritt ab.
    Ehrlich, für manche Leute ist das Leben ein ganz schöner Beschiss.

 
    M argueritte sagt, sich zu bilden, das ist, wie wenn man versucht, auf einen Berg zu steigen. Heute verstehe ich das besser. Solange man auf seiner Weide steht, meint man, alles zu sehen und zu kennen von der Welt: die Wiese, den Klee und die Kuhfladen (das Beispiel ist von mir). Aber eines schönen Morgens nimmt man seinen Rucksack und wandert los. Und je weiter man geht, desto kleiner wird das, was man hinter sich lässt: Die Kühe werden so winzig wie Karnickel, wie Ameisen, wie Fliegendreck. Und andersrum erscheint einem die Landschaft, die man beim Höherkommen entdeckt, immer größer. Man dachte, die Welt würde beim nächsten Hügel aufhören, aber nein! Dahinter ist ein anderer, und noch einer, ein etwas höherer, und noch einer. Und dann ganz viele. Dieses Tal, in dem man so vor sich hin lebte, war nur ein Tal von vielen und nicht einmal das größte. Es war letztlich der Arsch der Welt! Beim Wandern begegnet man anderen Leuten, aber je mehr man sich dem Gipfel nähert, desto weniger werden es, und desto mehr friert man sich einen ab. Bildlich gesprochen, meine ich natürlich. Und wenn man dann ganz oben steht, ist man froh und stolz, dass man höher gekommen ist als alle anderen. Man hat einen irre weiten Ausblick. Aber nach einer Weile, da fällt einem was ganz Blödes auf: dass man nämlich allein ist, ohne irgendjemanden, mit dem man noch reden kann. Ganz allein und schrecklich klein.
    Und vom Standpunkt des Herrn aus, Er sei gelobt, sind wir sicher auch nicht größer als ein verdammter

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