Das Labyrinth der Wörter
Fliegenschiss.
Das ist es wahrscheinlich, was Margueritte meint, wenn sie sagt: »Wissen Sie eigentlich, Germain, dass Bildung einsam macht?«
Ich glaube, da hat sie nicht unrecht, und außerdem muss einem ja ganz schön schwindelig werden, wenn man das Leben immer so tief unter sich hat.
Die Moral von der Geschichte: Ich werde auf halber Höhe stehen bleiben und glücklich sein, wenn ich es so weit schaffe.
M argueritte hat einen Abschluss. Nicht nur einen popeligen kleinen Abschluss wie die mittlere Reife, die jeder Dahergelaufene hat (na ja, bis auf mich), sondern sie hat ein richtiges Studium hinter sich. So was dauert so lange, dass man schon alt ist, wenn man damit fertig wird, und keine Zeit mehr hat, genug Arbeitsjahre zusammenzubringen, um eine anständige Rente zu kriegen.
Sie hat einen Doktor, nur dass sie nicht Doktor ist, sie hatte mit Pflanzen zu tun. Margueritte untersuchte Traubenkerne. Ich weiß zwar nicht, was es da zu untersuchen gibt, so ein Kern ist ja ziemlich übersichtlich. Aber das war ihre Arbeit, und man soll nicht überheblich sein.
Es gibt keine dummen Berufe, nur dumme Leute.
Jedenfalls ist das vielleicht der Grund, warum sie immer von »Kultur« redet, davon, »sich zu kultivieren«. Wieder Wörter, die gleich klingen, aber verschiedene Sachen meinen. Bei der Bodenkultur gräbst du die Erde mit dem Spaten um, du ziehst deine Furchen, lockerst den Boden auf oder machst deine Aussaat. Und bei der anderen Kultur, der, von der Margueritte spricht, nimmst du einfach nur ein Buch und liest. Aber das ist nicht unbedingt leichter, im Gegenteil!
Über Bücher kann ich Ihnen jetzt was erzählen: Ich habe welche gelesen.
Sie können sich nicht vorstellen, wie kompliziert das Lesen ist, wenn man nicht gebildet ist, so wie ich. Man liest ein Wort, gut, man versteht es, das nächste auch, und mit ein bisschen Glück sogar das dritte. Man geht weiter, immer der Fingerspitze nach, acht, neun, zehn, zwölf, bis zum Punkt. Aber wenn man da angekommen ist, ist man keinen Schritt weiter! Man versucht zwar, alles zusammenzufügen, aber es ist nichts zu machen: Die Wörter bleiben so durcheinander wie eine Handvoll Schrauben und Muttern in einer Blechdose. Für Leute, die sich auskennen, ist das einfach. Sie brauchen nur zusammenzuschrauben, was zusammengehört. Fünfzehn Wörter oder zwanzig Wörter, das macht ihnen keine Angst, das nennt man einen Satz. Aber für mich sah das lange Zeit ganz anders aus. Ich konnte lesen, klar, ich kannte die Buchstaben und alles. Das Problem war der Sinn. Ein Buch, das war wie eine Rattenfalle für meinen Stolz, ein scheinheiliges, hinterhältiges Ding, das auf den ersten Blick ganz harmlos aussah.
Tinte und Papier, was sollte schon dabei sein? Aber es war eine Mauer. Eine Mauer, an der ich mir den Kopf einrannte.
Deswegen sah ich nicht ein, wozu Lesen gut sein sollte, solange man nicht dazu gezwungen war, wie für die Steuer oder die Krankenkasse.
Ich glaube, das ist es, was mich bei Margueritte am meisten fasziniert hat – siehe: eine fesselnde Wirkung auf jemanden ausüben .
Jedes Mal, wenn ich sie sah, tat sie entweder nichts, oder sie blätterte in einem Buch. Und wenn sie nichts tat, dann hatte sie ihr Buch gerade zurück in die Tasche gesteckt, um sich mit mir zu unterhalten.
Das habe ich mit der Zeit rausgefunden. Wenn Sie mich heute fragen würden, was alles in ihrer schwarzen Handtasche ist, könnte ich mit geschlossenen Augen sagen: einPäckchen Papiertaschentücher, ein Kuli, Pfefferminzbonbons, ein Buch, ihre Brieftasche und Parfum in einem kleinen Zerstäuber aus dunkelblauem Glas.
Es ist immer alles gleich, bis auf das Buch, das wechselt.
Es ist komisch: Wenn ich Margueritte anschaue, sehe ich nur eine winzige Alte, vierzig Kilo leicht, zerknittert wie eine Klatschmohnblüte, mit einem krummen Rücken und tatterigen Händen, aber in ihrem Kopf, da sind Tausende von Büchern aufgereiht, alle schön sortiert und nummeriert. Man sieht ihr nicht an, dass sie intelligent ist. Sie redet ganz normal mit mir, sie geht im Park spazieren, sie zählt die Tauben, genau wie gewöhnliche Leute.
Sie macht sich kein bisschen wichtig.
Dabei gab es damals, als sie jünger war, nicht viele Frauen, die so spezielle Sachen studierten, das hat sie mir erzählt. Ich weiß immer noch nicht richtig, was sie eigentlich an ihren Traubenkernen untersucht hat, und auch nicht, wozu das gut sein sollte, aber sie arbeitete in Labors, mit Mikroskopen, Reagenzgläsern
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