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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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und Fläschchen, und schon das allein macht mir Eindruck.
    Das und auch die Bücher, die sie die ganze Zeit liest.
    Die sie las, vielmehr.

 
    M argueritte und ich haben uns wieder getroffen, den Tag weiß ich nicht mehr genau, nicht sehr lange nach dem ersten Mal. Sie saß wieder auf derselben Bank, und es war sicher die gleiche Uhrzeit.
    Als ich sie von weitem gesehen habe, da habe ich gedacht: »Ach, da ist ja die Oma mit den Tauben!«, und diesmal hat es mich nicht weiter gestört. Ich bin hingegangen, um ihr guten Tag zu sagen. Sie hatte die Augen halb geschlossen und sah aus, als würde sie nachdenken oder gleich einschlafen.
    Bei alten Leuten sieht am Ende alles ähnlich aus: denken, sterben, Mittagsschlaf machen.
    Ich habe guten Tag gesagt. Sie hat hochgeschaut und gelächelt.
    »Ach! Guten Tag, Monsieur Chazes!«
    Ich werde hier in der Gegend nicht oft Monsieur genannt. Da heißt es eher: »Hallo, Germain!« Oder: »He, Chazes!«
    Sie hat auf die Bank gezeigt, damit ich mich zu ihr setze. Und da habe ich gesehen, dass ein Buch auf ihrem Schoß lag. Weil ich es anschaute, um zu versuchen, das Bild auf dem Umschlag zu erkennen, hat sie mich gefragt: »Lesen Sie gern?«
    »Oh, nein!«
    Das kam wie aus der Pistole geschossen und war dann nicht mehr zurückzuholen.
    »Nein?«
    Margueritte wirkte geplättet.
    Ich habe versucht, die Sache geradezubiegen, und locker gemeint: »Zu viel Arbeit …«
    »Ach so! Ja, das ist wohl wahr. Die Arbeit frisst eine Menge Zeit im Leben … Tauben zählen, seinen Namen auf das Gefallenendenkmal schreiben …«
    Sie sagte das mit so einem Gesicht, als würde sie innerlich lachen, aber nicht böse.
    »Haben Sie mich gesehen? Bei dem Denkmal, haben Sie mich da gesehen?«
    Sie nickte. »Nun ja, ich habe Sie eines Tages bemerkt, vor der Stele. Sie wirkten sehr beschäftigt, aber von hier aus konnte ich nicht erkennen, was Sie taten. Deshalb bin ich – ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Neugier – nachschauen gegangen, als Sie wieder fort waren. Und so habe ich festgestellt, dass Sie der Liste der Gefallenen einen Namen hinzugefügt haben: Germain Chazes … Ich nehme an, es handelt sich um Ihren Vater? Denn wenn ich mich nicht irre, haben Sie mir doch gesagt, dass Sie mit Vornamen ebenfalls Germain heißen, nicht wahr?«
    Ich habe ja gesagt. Aber da es ein einziges Ja auf verschiedene Fragen war, hat sie einfach verstanden, was sie verstehen wollte. Und ich stand plötzlich mit einem unbekannten Soldaten als Vater da, der den gleichen Namen hatte wie ich, was eigentlich komisch war: Chazes ist nämlich der Name meiner Mutter, die auch mit ihrem dicken Bauch ledig geblieben ist, und später mit mir auf dem Arm.
    Oder mit mir »am Hals«, wie sie oft sagte.
    Ich war nämlich eine schwere Last für meine Mutter, daraus hat sie kein Geheimnis gemacht. Aber wie Landremont sagen würde: »Das beruht auf Gegenseitigkeit.« Soll heißen, dass sie mir auch ganz schön auf den Senkel gegangen ist.
    Ich wollte Margueritte nicht damit enttäuschen, dass ich ihr von dem Ball am 14. Juli erzählte, wo sich meine Mutter in einem Gebüsch von einem dreißigjährigen Kerl aus dem Nachbardorf das Leben erklären ließ, was ihr einen schlechten Ruf und einen halb schwachsinnigen Sohn einbrachte, zumindest von ihrem Standpunkt aus. Ich spürte genau, dass die Dinge in Marguerittes Welt nicht so liefen. Deswegen habe ich einfach nur ja gesagt. Und damit stand ich plötzlich als arme Kriegswaise da, was doch wesentlich mehr hermacht als so ein Betriebsunfall, wenn Sie meine Meinung hören wollen.
    Margueritte hat leise geseufzt, als wäre sie jetzt für mich unglücklich.
    Aber worüber denn?, habe ich gedacht. Wofür sollte sie mich bemitleiden? Ich habe doch ein ziemlich schönes Leben!
    Ich erinnere mich an ihren ernsten Blick, als sie dann sagte: »Ich finde es rührend von Ihnen, dass Sie sich so dafür einsetzen, einer offensichtlichen Ungerechtigkeit abzuhelfen … Es ist ja auch ein Unding: Wenn Ihr Vater in Algerien gefallen ist, wie kommt es dann, dass sein Name nicht auf diesem Denkmal steht?«
    Was hätte ich ihr sagen sollen, um zu erklären, warum mein Alter nicht auf der Liste war? Soweit meine Informationen stimmen, hieß er nämlich Despuis, war Tischler und ist noch nicht mal im Krieg umgekommen, sondern bei einem Busunfall in Spanien, als ich etwa vier, fünf Jahre alt war. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er nie einen Fuß nach Algerien gesetzt hat, schon gar nicht im

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