Das Labyrinth der Zeit
Also haben sie sich auf eine Frist geeinigt. Wer von ihnen lebend in Gefangenschaft geraten sollte, würde genau vierundzwanzig Stunden Folter über sich ergehen lassen und sich dann umbringen. Sie alle haben eine Zyanidkapsel in ihre Zunge eingenäht.»
«Mein Gott», flüsterte Bethany.
«In sechs Stunden», sagte Dyer, «wird Garner die Kapsel herausbeißen und verschlucken. Wer auch immer mit ihm zusammen gefangen sein mag, wird dasselbe tun. Das war es dann.»
Das sporadische, metallische Klopfen war verstummt.
Stille hatte sich herabgesenkt.
Die Minuten zogen sich in die Länge.
Travis beobachtete die anderen, die sichtlich bemüht waren, Ruhe zu bewahren. Paige, die neben ihm saß, nahm seine Hand.
Sie warteten.
Unwillkürlich dachte er wieder über die Botschaft aus der Pforte nach. Darüber, dass es dabei um ihn ging, und zwar immer schon. Sogar schon, als er gerade einmal zehn Jahre alt war.
Wie das genau möglich sein sollte, bekam er einfach nicht in den Kopf. Nicht mal ansatzweise. Also wandte er sich stattdessen einem Problem eher technischer Art zu, einfach zur Ablenkung, wie ihm durchaus klar war. Aber er sann trotzdem darüber nach.
Selbst wenn in den nächsten paar Minuten alles perfekt lief, wie sollte er sich 2016 Zutritt zu Border Town verschaffen? Das bis dahin vermutlich zur bestgeschützten militärischen Festung auf Erden ausgebaut sein würde. Er hatte den Ort schon einmal infiltriert, als er sich noch unter der Kontrolle von Tangent befand, aber auch nur mit Hilfe einer Entität – einer der nützlichsten, die je aus der Pforte zum Vorschein gekommen war.
Sein Gedankenstrom verebbte jäh.
Er starrte die Tunnelwand gegenüber an. Blickte dann kurz abwesend vor sich ins Leere.
«Du heilige Scheiße», sagte er leise.
Die anderen sahen ihn fragend an, aber mehr sagte er nicht. Ließ einfach nur Paiges Hand los, rappelte sich hastig vom Boden auf und rannte los, in Richtung Treppe.
36
«Was tust du denn?», schrie Paige ihm hinterher.
Travis hatte bereits zwei Treppenabschnitte zurückgelegt. Paiges Stimme gellte gespenstisch durch den Schacht hinter ihm, hallte zwischen den Wänden wider.
Travis, der in größter Eile die Treppe hochstürmte, drei Stufen auf einmal nehmend, sah nach unten, ohne stehen zu bleiben. Paige kam gerade aus dem Tunnel zum Vorschein, dicht gefolgt von Bethany und Dyer.
«Kommt mit!», rief Travis. «Aber nicht bis ganz nach oben. Wartet weiter unten, dreißig Meter unter der Kammer.»
«Die sprengen doch jetzt jeden Moment die Tür!», schrie Dyer.
«Ich weiß», rief Travis.
Ohne innezuhalten weiter die Stufen hinaufjagend, beschrieb er in einigen herausgestoßenen kurzen Sätzen die Idee. Die Hoffnung. Danach sah er wieder nach unten und stellte fest, dass Paige die Augen leicht aufgerissen hatte, als sie verstand.
«Oh mein Gott», sagte sie dann.
Travis wandte sein Augenmerk wieder der Treppe zu, und kurz darauf hörte er die Schritte der anderen, die ihm folgten.
Er kam an dem dunklen Tunnel vorbei, aus dem vorhin Dyer zu ihnen gestoßen war. Zwei Drittel des Schachts ragten noch über ihm in die Höhe, das kleine, helle Viereck, das den Zugang zu Raines’ Domizil markierte, schien noch unendlich weit entfernt. Travis rannte weiter, immer die Treppe hoch. Seine Lunge brannte längst, als wäre sie voll Säure, seine Oberschenkel und Knöchel nahmen kaum noch etwas wahr von der wiederholten Wucht des Aufpralls.
Er verlor jedes Zeitgefühl. Rannte wie in Trance, immer weiter, immer weiter, ohne die Stufen und Treppenabschnitte noch klar zu registrieren, dem offenen Viereck voll hellem Halogenlicht entgegen, das sich oben im Schacht unentwegt um sich selbst drehte und nach und nach, ganz unmerklich, immer größer wurde.
Er dachte an das kleine Mädchen in der Dritten Kerbe, das seine Mutter dazu gedrängt hatte, die Geschichte von dem Geist zu erzählen.
Dachte daran, wie Jeannie sichtlich gezaudert hatte, der Kleinen zu widersprechen. Weil sie, gegen all ihre Logik, tatsächlich davon überzeugt schien, dass dort oben vor den Minenzugängen irgendein Spuk vor sich ging.
Wer sich einem Zugang nähert , hatte sie berichtet, hört auf einmal Stimmen, ein leises Flüstern, ganz in der Nähe, zwischen den Bäumen hinter einem. Um einen herum bewegen sich plötzlich Kiefernzweige, als würde der Wind hineinfahren, auch bei völliger Windstille.
Er dachte auch an seine eigenen Worte Paige gegenüber, bezogen auf die mächtigen Leute, mit
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