Das Labyrinth der Zeit
sagte Paige. «Falls ich umkippe, fang mich bitte auf.»
«Moment.» Er erhob sich und setzte sich ihr gegenüber. Sie rückte ihm von der Wand aus entgegen, bis sie einander in Hüfthöhe mit den Beinen umschlangen und ihre Oberkörper sich berührten. Er nahm sie in die Arme und drückte sie eng an sich, und sie ließ den Kopf auf seine Schulter sinken.
«Nun kippst du bestimmt nicht um», sagte er.
Sie nickte wortlos an seiner Schulter und entspannte sich weiter, ihre Atmung ging schon beinahe wieder ganz normal.
«Bis dann. Wir sehen uns in drei Minuten und sechzehn Sekunden», sagte sie.
Sie hatte kaum die Augen geschlossen, als sie auch schon spürte, wie der Effekt einsetzte. Eben hatte sie noch einen Boden unter sich und Travis’ Arme um sich, und gleich darauf war sie fort, trieb in einer Art neuronalem Gegenstück zu einem Entspannungstank, abgeschnitten von allen Außenreizen. Sie fühlte das leise Vibrieren des Anzapfers in ihrem Kopf, der sich nun von ihrer Schläfe aus unter der Schädeldecke entlang bis zum Scheitellappen auf der Seite gegenüber wand. Ihren Körper und ihre Gliedmaßen spürte sie nicht mehr, sie nahm nichts mehr wahr außer ihren Gedanken.
Und ihren Erinnerungen.
Sie konzentrierte sich, um die gewünschte Erinnerung wiederherzustellen. Stellte sich das Büro ihres Vaters – das inzwischen ihr Büro war – bildlich vor, an jenem Tag fünf Jahre zuvor. Er hatte mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch gesessen, vor seinem Computerbildschirm mit der Landkarte auf der einen und Carrie Holdens Gesicht auf der anderen Hälfte.
Das Bild stand ihr fast umgehend vor Augen – sehr viel müheloser und lebhafter, als es unter normalen Umständen möglich gewesen wäre. Sie sah es so, wie sie es von ihrem damaligen Blickwinkel aus gesehen hatte, als sie durch die Bürotür kam und mit dem Schuh über eine Bodenfliese scharrte, worauf ihr Vater heftig zusammengezuckt war. In diesem Zustand fror sie das Bild ein, in jenem Augenblick, ehe er die Karte auf dem Bildschirm schloss.
Der Anzapfer war schon ein sagenhaftes Ding. Das Erinnerungsbild stand ihr vor Augen wie eine Diaprojektion, so vollständig und detailgenau, als wäre jener Augenblick auf einem hochauflösenden Foto festgehalten worden.
Womit jedoch die Möglichkeiten, die die Besonderheit des Anzapfers ausmachten, noch längst nicht erschöpft waren. In dem Fall wäre sie kein Stück weitergekommen: Weil sie aus dieser Entfernung die Beschriftung der Karte nicht erkennen konnte. Weder die Straßennamen noch den Namen des Ortes, falls es einen gab. Erkennen konnte sie lediglich eine nach Norden und Süden hin verlaufende Überlandstraße sowie ein bescheidenes Gittergeflecht von Straßen, die sich auf halber Höhe zusammenballten. Von diesem Straßengeflecht zweigten ein paar schmalere Landstraßen nach links und rechts ab. Es war eine x-beliebige Kleinstadt, wie es sie auf der Welt zu Hunderttausenden gab. Anhand des Bildes war sie unmöglich zu identifizieren.
Sie ließ die Erinnerung im Geist vorwärtslaufen. Der Schreibtisch mitsamt Computer wurde in ihrem Gesichtsfeld größer, während sie den Raum betrat. Dann bewegte sich die Hand ihres Vaters auf der Maus, und die Karte verschwand – an Deutlichkeit hatte sie in dem kurzen Zeitraum kaum gewonnen.
Sie fror das Bild erneut ein und ließ es langsam wieder rückwärtslaufen. Ihr Gesichtswinkel glitt erneut auf die Tür hinter ihr zu und die Karte tauchte wieder auf dem Bildschirm auf. Jetzt glitt seitlich von ihr auch der Türrahmen wieder in ihr Gesichtsfeld. Wieder war das Scharren zu vernehmen, das sie mit ihrem Schuh auf dem Boden verursacht hatte, unheimlich anzuhören, weil es sowohl rückwärts als auch unnatürlich gedehnt erklang, in Zeitlupe eben. Sie spulte zurück in den Korridor und noch weiter, bis zu dem Zeitpunkt etwa fünf Sekunden eher, bevor sie das Büro betreten hatte. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie die Erinnerungsfolge in jeder beliebigen Geschwindigkeit vorwärts oder rückwärts hätte ablaufen lassen können, kaum anders, als würde sie eine Videodatei vor- oder zurückspulen. Mit einer Geschwindigkeit von einer Stunde pro Sekunde hätte sie durch ein hektisch zuckendes Gewimmel von Bildern zurückspulen, einen kompletten Tag in weniger als einer halben Minute rückwärts durcheilen können, um dann ihr Tempo wieder zu verlangsamen und sich auf jeden beliebigen Augenblick zu konzentrieren, den sie zu sehen wünschte. Jeder einzelne
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