Das Labyrinth der Zeit
endgültig aufgab, sich noch länger zu verstellen. Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und zog die Knie ganz eng an ihren Körper. Travis setzte sich neben sie.
«Immer schön tief und langsam atmen», sagte er.
«Schon klar.»
«Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen.»
«Ich weiß.»
Sie betrachtete den Anzapfer, den sie in der offenen Hand vor sich hielt. Travis beobachtete, wie das Licht auf verwirrende Weise das Objekt umspielte. Seltsame silbrige Formen waren in seinem Inneren zu erkennen, winzige Wirbel und Bögen, die an Krummsäbel erinnerten.
Dann nahm Paige den Würfel in einer fließenden Bewegung zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn sich an die Schläfe. Sie drückte ihn gegen ihre Haut, und Travis sah, wie die Umrisse des Würfels zu verschwimmen begannen, als er in heftige Vibration geriet.
Paige atmete unwillkürlich schneller, sosehr sie sich auch darum bemühte, ruhig zu bleiben. Sie streckte ihren anderen Arm quer über sich und griff nach Travis’ Hand.
«Wird schon alles gutgehen», flüsterte er.
Sie nickte rasch, vermutlich ohne seine Worte bewusst wahrzunehmen.
Dann geschah es. Der kleine Würfel verflüssigte sich auf einmal zwischen Paiges Fingerspitzen und sah jetzt aus wie ein dicker Tropfen Aloe-Gel. Fast gleichzeitig wölbte sich das Gel nach oben und bildete eine Spitze – und dann einen drähtchenartigen Faden von etwa einem Zentimeter Länge, so fein wie eine dünne Gitarrensaite. Kurz ragte er nach oben und schwankte leicht, im Einklang mit dem Beben, das Paiges Körper durchlief. Dann bog er sich seitwärts und stieß sich in ihre Schläfe, erst durch die Haut, dann durch den Knochen.
Travis merkte, wie sich ihre Hand zusammenkrampfte und die seine noch fester umklammerte. Ihre Atemzüge gingen in kleine Schreie über, die erahnen ließen, was für Schmerzen sie gerade litt. Travis wusste, wie qualvoll diese Prozedur war. Er hatte sie selbst schon erlebt. Der Anzapfer war während seiner zweijährigen Abwesenheit aus der Pforte zum Vorschein gekommen, wurde aber immer noch intensiv erprobt, als er zu Tangent zurückkehrte. Wie schon viele Kollegen zuvor hatte er sich freiwillig für eine Erprobung zur Verfügung gestellt, und dieser eine Versuch war so glatt verlaufen, wie er es sich nur hätte wünschen können. Trotz der damit verbundenen Schmerzen hatte er die feste Absicht, das Erlebnis irgendwann einmal zu wiederholen.
Dann hatte eine Frau namens Gina Murphy ihr Glück versucht, und damit änderte sich schlagartig alles. In dem halben Jahr, das seither vergangen war, hatte niemand mehr es gewagt, den Anzapfer zu benutzen.
Travis wandte nicht den Blick ab, während der Tropfen mit jeder Sekunde kleiner wurde. Durch den dünnen Einstich, den der Faden gemacht hatte, speiste sich die grüne Masse nach und nach in Paiges Schädel ein. Was sich in ihrem Kopf gerade abspielte, konnte Travis zwar nicht sehen, doch ihm war noch sehr präsent, wie es sich anfühlte: wie ein lebendiger, immer länger werdender Garnfaden, der zwischen den tiefen Windungen auf der Gehirnoberfläche umherhuschte und sich tastend und spürend seinen Weg bahnte wie die dünne Zunge einer Schlange. Dieser Vorgang war eine einzige, unsägliche Qual.
Aber das war beim Anzapfer nun einmal unvermeidlich. Bisher lief so weit alles gut.
Paige schrie immer lauter, während sie vor Schmerz die Augen zusammenkniff.
«Ich bin ja bei dir», flüsterte Travis.
Fünf Sekunden waren vergangen, seit sich die Spitze in ihre Schläfe gebohrt hatte, die Gelmasse zwischen ihren Fingerspitzen war mittlerweile auf die Hälfte eingeschrumpft. Der Einspeisevorgang dauerte nie länger als zehn bis zwölf Sekunden.
Kurz vor Schluss bekam Paige ihre Atmung wieder unter Kontrolle. Sie verstummte, und ihre Mimik entspannte sich. Der letzte Gelrest schnurrte zu Drähtchenstärke zusammen und verschwand restlos durch das kleine Loch an ihrer Schläfe, an dem nur ein Blutströpfchen zurückblieb.
Paige schlug die Augen auf.
«Besser?», erkundigte sich Travis.
Sie nickte.
War der dünne Faden erst vollständig eingedrungen, hörte die umhertastende Bewegung sofort auf und damit auch der Schmerz, zu einem großen Teil jedenfalls.
Sie hielt noch immer seine Hand umklammert. Unter seiner Fingerkuppe an ihrem Handgelenk konnte er ihren rasenden Puls spüren, der mit etwa drei Schlägen pro Sekunde klopfte, sich aber nun spürbar wieder beruhigte.
«Ich bin bereit»,
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