Das Labyrinth der Zeit

Titel: Das Labyrinth der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Patrick

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Sekundenbruchteil würde eine Fülle gestochen scharfer Einzelheiten enthalten. Jeder einzelne Moment ihres Lebens stand sozusagen auf Abruf bereit, um erneut durchlebt und genauestens unter die Lupe genommen zu werden.
    Es hätte ein Ding der Unmöglichkeit sein müssen – das wusste sie, auch ohne auf dem Gebiet der Neurowissenschaften sonderlich bewandert zu sein. Das menschliche Gedächtnis mochte über erstaunliche Speicherkapazitäten verfügen, denen aber dennoch gewisse Grenzen gesetzt waren. Einmal davon abgesehen, mit welcher Präzision der Anzapfer Informationen aus ihrem Gehirn abrufen konnte – eine solche Fülle von Informationen hätte dort gar nicht erst vorhanden sein dürfen. Wie gesagt, der Anzapfer war schon ein tolles Ding.
    Doch diese Funktion machte noch immer nicht seine wahre Besonderheit aus – und sprengte auch nicht die Grenzen dessen, was man immer noch für objektiv möglich halten konnte. Noch lange nicht.
    Paige fror das Bild erneut ein.
    Fünf Sekunden von der offenen Tür entfernt. Für sie noch unsichtbar, starrte ihr Vater dahinter Carrie Holden und die Karte an, ohne zu ahnen, dass Paige sich gerade draußen im Flur näherte.
    Perfekt.
    Um die wichtigste Eigenschaft des Anzapfers zu nutzen, brauchte sie jetzt nur noch kurz abzuwarten. Alles Weitere war kinderleicht und rein intuitiv zu steuern. Ein paar Sekunden verstrichen, während die Erinnerung eingefroren blieb, und dann fühlte sie allmählich ihre Füße unter sich. Sie schwebte noch im leeren Raum, ihre Füße aber kribbelten schon, als könnten sie den Fußboden einen halben Zentimeter unter sich spüren.
    Sie ließ sich ganz bewusst nach unten sinken und merkte, wie ihre Schuhe komplett auf dem Boden aufsetzten.
    In jenem Augenblick erwachte die Erinnerung zum Leben. War nicht mehr länger nur ein Bild, das ihr vor Augen stand, sondern eine Welt, die sie ganz konkret umgab: der Flur und die Neonbeleuchtung, das Summen der Belüftung und der eben noch wahrnehmbare Geruch von Reinigungsmitteln, mit denen der Fußboden gewischt worden war. Körperlich war sie ebenfalls dort, mitten in einem Vorwärtsdrall begriffen – zu diesem Zeitpunkt ihrer Erinnerung eilte sie gerade auf das Büro zu. Die jäh einsetzende Bewegung hätte sie beinahe ins Straucheln gebracht, ehe sie unvermittelt stehen blieb. Sie streckte eine Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, und hielt lautlos einen guten halben Meter vor der Tür inne.
    Ihrer gesamten sinnlichen Wahrnehmung nach stand sie jetzt wirklich dort, in jenem Augenblick, der fünf Jahre zurücklag. Ihr Vater saß wirklich in dem Raum vor ihr, jetzt noch verborgen von dem Türrahmen. Tatsächlich konnte man mit Hilfe des Anzapfers Erinnerungen erneut durchleben, genau so wie sie seinerzeit abgelaufen waren – doch das machte noch immer nicht seine Besonderheit aus.
    Dass man Erinnerungen mit seiner Hilfe erneut durchleben konnte, wie sie eben nicht abgelaufen waren: Das machte seine Besonderheit aus.
    Paige machte einen Schritt vorwärts durch die offene Tür.
    Sie achtete darauf, mit dem Schuh nicht über die Fliese zu scharren.
    Sie sah ihren Vater am Schreibtisch sitzen, ganz in die Betrachtung der Karte und des Fotos von Carrie versunken. Er ahnte nicht, dass Paige sich hinter ihm befand.
    Sie unternahm einen Schritt in den Raum und dann den nächsten.
    Er saß weiter reglos da, offenbar völlig in Gedanken, während er den Bildschirm anblickte.
    Sie näherte sich um einen weiteren Schritt und dann noch einen.
    Inzwischen konnte sie die Karte deutlicher erkennen. Sie befand sich jetzt dichter davor, als es ihr im wahren Leben gelungen war.
    Noch ein Schritt.
    Noch immer nicht nahe genug, um die Beschriftung auf dem Bildschirm erkennen zu können.
    Aber schon fast nahe genug.
    Anfangs, als die ersten Freiwilligen nach Gebrauch des Anzapfers ihre Erlebnisse schilderten, hatte sie ihnen keinen Glauben geschenkt. Diese Berichte konnten einfach nicht stimmen; wie um alles in der Welt sollte man sich an Einzelheiten erinnern können, die man beim ersten Mal gar nicht wahrgenommen hatte? Dann hatte sie es selbst ausprobiert, und von da an war es auch für sie nicht mehr zu bestreiten. Tatsächlich waren die Kräfte des Anzapfers noch viel weitreichender, als sie angenommen hatte, und erschöpften sich längst nicht darin, dass man mit seiner Hilfe einen ursprünglich nicht durchquerten Raum durchqueren und Worte entziffern konnte, die beim ersten Durchgang zu weit entfernt