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Das Labyrinth der Zeit

Das Labyrinth der Zeit

Titel: Das Labyrinth der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Patrick
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gewesen waren. Man konnte beispielsweise ein Buch zur Hand nehmen, das man seinerzeit nicht geöffnet hatte, mehr noch, in das man niemals zuvor einen Blick geworfen hatte, und es auf Seite 241 aufschlagen. Dann erblickte man genau den Text, der auch im wirklichen Leben auf dieser Seite stand, wie sich anhand des konkreten Buches mühelos nachweisen ließ, wenn man aus der Erinnerung wieder erwacht war. Doch es kam noch besser. Paige hätte jetzt auch spontan das Büro ihres Vaters verlassen und sich in dieser Erinnerung nach oben in ihre Wohnung begeben können, um einen Flug nach Paris zu buchen. Nach absolviertem Flug und erfolgter Landung in der Seine-Metropole könnte sie über die Champs-Élysées bummeln, und zwar inmitten genau jener Touristenscharen, die sich fünf Jahre zuvor an jenem Tag auf dem Prachtboulevard aufgehalten hatten. Alles dort würde bis in die letzte Einzelheit akkurat mit der tatsächlichen Realität übereinstimmen: jede Haarsträhne, die aus einer Stirn gestrichen wurde, jedes einzelne Lächeln.
    Wie bei allen Entitäten gab es nur Mutmaßungen darüber, wie das im Einzelnen funktionierte. Der Techniker, der die meisten Selbstversuche damit durchgeführt hatte, ein Mann namens Jhalani, der in Cambridge einst mit Stephen Hawking zusammengearbeitet hatte, vertrat die Hypothese, dass es sich bei dem Anzapfer um eine Art Antenne handelte. Weil er ja eindeutig mehr vollbrachte, als bloß Informationen aus dem Hirn des Benutzers abzurufen – Jhalanis Vermutung nach zapfte er etwas noch weit Umfassenderes an: nämlich die Menge aller möglichen Universen. Von der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik hatte Paige zwar schon gehört, aber nur als interessante Hypothese. Umso erstaunter war sie über Jhalanis Erklärung, dass diese Theorie in der modernen Physik inzwischen weithin akzeptiert war. Im Kern besagte sie, dass jedes Geschehnis, das auf die eine oder andere Weise ablaufen könnte, tatsächlich auf beide Weisen parallel ablief. Jedes Mal, wenn man vor der Auswahl zwischen Weißbrot und Mischbrot stand und sich für Weißbrot entschied, entschied sich irgendwo da draußen in dem großen Wer-weiß-schon-was-genau eine andere Version des eigenen Ichs für Mischbrot. Physiker diskutierten diese Abläufe zwar in erster Linie auf der Ebene subatomarer Teilchen, doch wenn die Theorie in einem derart winzigen Maßstab anwendbar war, war sie bei der Auswahl von Brotsorten, Flugreisen nach Paris und über Bodenfliesen scharrenden Schuhen erst recht anwendbar. Letzten Endes, fand Paige, hatte Travis das Prinzip des Anzapfers am besten auf den Punkt gebracht: Mit seiner Hilfe konnte man sich nicht nur an alles erinnern, was man je getan hatte, sondern auch an alles, was man hätte tun können . Wirklich ein tolles Ding.
    Sie ging einen weiteren Schritt auf den Schreibtisch ihres Vaters zu. Bald schon würde sie in sein peripheres Gesichtsfeld geraten – in etwa an dem Punkt, von dem aus sie die Beschriftung der Karte entziffern könnte. Ihr Spielraum würde bestenfalls wenige Zentimeter betragen.
    Ihr Vorhaben, das war das Knifflige, musste unbedingt beim ersten Anlauf gelingen, denn mehr als einen Anlauf hatte sie nicht. Zweimal konnte man ein- und dieselbe Erinnerung nicht aufsuchen, das war das einzige Manko des Anzapfers. Eine Erinnerung, so drückten es die Techniker bildhaft aus, war verbrannt , nachdem man sie ein weiteres Mal durchlebt hatte. Nicht nur war die Möglichkeit einer zweiten Rückkehr ausgeschlossen, schlimmer noch, man konnte sich hinterher nicht einmal mehr an den ursprünglichen Ablauf der Geschehnisse erinnern. Das Original wurde für alle Zeit unwiderruflich durch die revidierte Fassung ersetzt. Weshalb man also von Erinnerungen, die einem besonders lieb und teuer waren – ein erster Kuss zum Beispiel –, besser die Finger ließ.
    Ein nächster Schritt.
    Wenn es hart auf hart kam, hatte sie durchaus noch Möglichkeiten. Schließlich war das, was sie hier gerade durchlebte, lediglich eine Erinnerung: Nichts, was sie hier tat, würde reale Auswirkungen haben, wenn sie wieder zu sich kam. Sie könnte also, zum Beispiel, bedenkenlos auf ihren Vater zuhechten und ihn beseitestoßen, um sich die Karte auf dem Bildschirm gründlich anzusehen, ehe er irgendetwas unternehmen konnte. Danach könnte sie sich mühelos aus dem Staub machen – um die Erinnerung zu beenden, brauchte sie nur konzentriert an ihre konkrete Ausgangssituation in der Wirklichkeit zu denken:

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