Das Labyrinth der Zeit
wurden diese Maßnahmen offenbar von oberster Stelle aus gelockert; die Bewacher jedenfalls wurden am 7. Mai abgezogen, und noch in derselben Nacht, nachdem Nora sich wie jeden Abend in ihr Hotel zurückgezogen hatte, hat Ward sich selbst seine Ernährungssonde herausgezogen und ist aus dem Krankenhaus getürmt. Hat das Notizbuch mitgenommen, aus einem Umkleideraum auf demselben Flur die Kleidung eines Pflegers entwendet und hat schließlich den Weg hinaus ins Freie gefunden.»
«Und niemand hat versucht, ihn aufzuhalten?», fragte Paige ungläubig. «Nach zwei Monaten im Bett müsste er doch getorkelt sein wie ein Betrunkener.»
«Als er die Komaabteilung erst mal verlassen hatte, ist er ja nur noch Fremden begegnet», sagte Carrie. «Auf die wird er wie ein normaler Reha-Patient gewirkt haben. Meines Wissens gab es Kameraaufzeichnungen, die die Polizei am nächsten Morgen ausgewertet hat; so hat man alles rekonstruieren können. Wenn ich mich recht entsinne, hat Ward ungefähr zwanzig Minuten gebraucht, um aus dem Gebäude herauszukommen. Er hat das Krankenhaus durch einen nördlichen Ausgang verlassen, der auf die Monument Street führte, und das war’s. Niemand, der ihn kannte, hat ihn je wieder lebend gesehen.»
Sie hatten inzwischen zwei Meilen auf dem Highway 550 zurückgelegt. Die letzten Außenposten des Ortes zogen an ihnen vorbei – ein paar Motels und ein Campingplatz, der sich durch den Canyon erstreckte –, und dann umgab sie nur noch freies, flaches Land, das von Weidezäunen durchzogen war.
«Drei Monate darauf dann der Selbstmord. Die Polizei in Los Angeles hat ihn, glaube ich, anhand seiner Fingerabdrücke identifiziert; er war als Student bei einigen Anti-Kriegs-Protesten festgenommen worden. Die Umstände vor Ort waren eindeutig: Er hat sich ohne Begleitung ein Hotelzimmer gemietet und dort erschossen, keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung. Auch von dem Notizbuch fehlte jede Spur – was aber erst später von Belang war, denn darauf hat zu dem Zeitpunkt natürlich kein Mensch geachtet. Und ab da klafft eine Lücke in der Geschichte, bis zum Juni 1981, als Nora wieder geheiratet hat. Zu der Hochzeit hatte sie auch alte Freunde eingeladen, aus der Zeit, als Ruben noch am Leben war, darunter auch frühere SGIS-Leute, die jetzt zu Tangent gehörten. Auch Peter Campbell war dort. Er und Nora haben sich über Ruben unterhalten, darüber, dass er für das, was ihm zugestoßen war, letzten Endes nicht verantwortlich war. Weil er nach dem Koma einfach nicht mehr der Alte war. In dem Zusammenhang hat Nora das Notizbuch erwähnt – all die futuristisch klingenden Dinge, die er in seinem halbwachen Zustand vor sich hingeredet hatte. Peter bat sie, ihm nähere Einzelheiten zu schildern. Was für futuristische Dinge genau? Nora zählte das Wenige auf, woran sie sich erinnern konnte, und Peter, das hat er mir später erzählt, musste sein Glas abstellen, um nicht sein Getränk zu verschütten. Technisch gesehen war dies wohl der Beginn der Ermittlung, schätze ich, mitten auf der Hochzeitsfeier. Peter hat Nora gefragt, ob sie wohl am nächsten Morgen, ehe sie in die Flitterwochen abreiste, ein paar Stunden erübrigen und ihm eingehender von dem Notizbuch erzählen könnte. Sie wird darüber nicht gerade begeistert gewesen sein, aber sie hat ihm den Gefallen getan. In diesen Stunden hat sie alles aus ihrem Gedächtnis gekramt, woran sie sich noch erinnern konnte, darunter auch eine bildliche Beschreibung des Notizbuchs: schwarzer Einband, mit dem Wort Skalar in der unteren rechten Ecke. Der Name des Herstellers vermutlich. An diese Äußerlichkeiten konnte Nora sich gut erinnern, im Gegensatz zum Inhalt des Buches, da hatte sie große Schwierigkeiten. Von dem, was sie aufgeschrieben hatte, fielen ihr nur vereinzelte Bruchstücke wieder ein, aus denen Peter wahrscheinlich nur mit Mühe schlau wurde. Letzten Endes aber gelang es ihm, aus dem, was Nora ihm berichtete, in groben Zügen nachzuvollziehen, was geschehen war. Und das jagte ihm eine Höllenangst ein.»
Draußen glitten links und rechts der Straße in weiter Ferne die Hoflichter von Farmen vorüber, hinter denen sich, kaum erkennbar vor dem fast schwarzen Himmel, steil ansteigend die Hänge von Gebirgsausläufern erhoben.
«Alles in allem war es wohl wie folgt», fuhr Carrie fort. «In den Tagen nach dem Unfall im SGIS, als Ward sich noch mit den anderen im Bunker befand, war er nicht völlig bewusstlos. Er bekam die Gespräche um sich
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