Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
Er hielt nach Mary Ausschau und wartete auf sie. Schwer atmend kam sie heran. Ihr sonst so bleiches Gesicht war von der Hitze und der Anstrengung gerötet. Ihre Nasenflügel bebten. Die braunen Augen hatten jeden Ausdruck verloren, so als hätte sie sich schon aufgegeben und wartete nun darauf, endlich umzukippen.
»Mary?«
Sie hob nur kurz den Kopf an. »Spar dir deinen Spott und die Predigt, die du mir schon wieder halten willst«, keuchte sie.
León lachte auf. »Predigt?«
»Falls du dir deine Sprüche nicht verkneifen kannst, nur zu. Aber dann mach dich darauf gefasst, auch mal von mir zu hören, was ich von dir halte.«
Unwillkürlich musste er lächeln. Mary wirkte so vornehm und wohlerzogen, aber ab und zu brach es doch aus ihr heraus. Genau das war sein Ziel.
»Ich habe eine Frage. Wenn wir jetzt Rast machen, uns ein bisschen ausruhen, kannst du dann weitergehen?«
Sie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Eine Pause? Ich dachte die ganze Zeit, wir könnten uns das nicht leisten. Warst nicht du es, der gesagt hat, jede Verzögerung würde ab jetzt von dir mit dem Ausschluss aus der Gruppe bestraft werden?«
»In spätestens einer halben Stunde klappst du zusammen.«
»Und? Dann lass mich zurück, wie Jenna. Wo ist das Problem?«
»Ich lasse dich nicht zurück.«
»Ach, nein? Woher der Sinneswandel? Hast du jetzt den Menschenfreund in dir entdeckt?« Sie lachte schwach auf.
»Wenn du mich beleidigen willst, nur zu. Aber das hilft uns nicht weiter.«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Also?«
»Was?«
»Kannst du nach einer Pause weiterlaufen oder nicht?«
Mary sah ihn an. »Ja, kann ich. Soll heißen, ich werde es versuchen. Wie lange ich durchhalte, weiß ich nicht.«
»Das genügt mir.«
»Was hast du vor?«
»Komm mit, wir besprechen das mit den anderen.«
Mischa, Tian, Kathy und Mary standen León in einem Halbkreis gegenüber. Alle waren zutiefst erschöpft. Ihre Gesichter waren eingefallen und rot. Sie hatten spröde Lippen, seit sie keinen Wasservorrat mehr hatten, und rangen nach Atem, während sie kaum noch aufrecht stehen konnten. Abgesehen von Mary schien es Tian am schlechtesten zu gehen. Der Asiate war nur noch körperlich anwesend, so schien es León. Die Hände in die Seiten gestemmt, den Rücken durchgebogen, stand er da. Die blaue Strähne klebte an seiner Stirn, der schwarze Schopf war schweißnass.
León warf einen Blick auf Kathy. Sie schien noch Reserven zu haben. Ebenso Mischa. León knirschte mit den Zähnen, dann leckte er über seine trockenen Lippen und spuckte zähen Schleim auf den Boden. Wasser war das nächste Problem, aber er musste es später lösen: »Wir können nicht weitergehen.«
Alle schwiegen.
»In diesem Tempo können wir niemandem davonlaufen, wer auch immer uns verfolgt und töten will. Es ist auch egal, ob wir sie Seelentrinker oder Killer nennen. Wir werden immer langsamer, während sie stetig näher kommen, ihr habt die Schreie ja auch gehört. Wenn wir jetzt stumpf weiterlaufen, brechen wir nur zusammen, dann sind wir ihnen erst recht hilflos ausgeliefert.«
»Du willst stehen bleiben und kämpfen?«, erkundigte sich Kathy. »Womit? Mit deinem Messer? Vier unbewaffnete Jugendliche und ein Verrückter mit Kartoffelschäler, der glaubt, man könne es mit… mit, was auch immer uns da draußen Angst macht, aufnehmen.« Sie grinste spöttisch. »Viel Spaß dabei, aber ich gehe weiter.«
»Du würdest nicht weit kommen«, mischte sich Mischa ein. »In ein paar Meilen bist auch du am Ende. León hat recht, wir müssen hier und jetzt etwas unternehmen, was sie von uns ablenkt. Vielleicht kommt es so gar nicht erst zum Kampf.«
»Wir brauchen die Sonne, die vertreibt doch das, was wir fürchten sollen, oder? Wenn die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, dann sind wir das Problem vielleicht erst einmal los«, beharrte Kathy.
León hob den Kopf zum Himmel. Wie ein Leichentuch lagen die Wolken über dem Land.
»Sie wird nicht hervorkommen«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass León kämpfen will«, sagte Mary. »Oder?«
León sah Mary verblüfft an. Offenbar war sie doch noch nicht so fertig, dass sie nichts mehr mitbekam. Er nickte. »Ich habe einen anderen Plan.«
León ließ seinen Blick über die angespannten Gesichter der Gruppe wandern. »Wir werden das Gras in Brand stecken. Die ganze Steppe wird sich in ein Flammenmeer verwandeln und uns die Jäger ein für alle Mal vom Hals schaffen.«
Sie starrten ihn an. Verständnislos.
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