Das Labyrinth erwacht: Thriller (German Edition)
sei es das Normalste der Welt. Aber Tian, der in der Ebene gelernt hatte, wie schwer selbst ein Rucksack werden konnte, zollte ihm seine Hochachtung.
Unmenschlich.
Ja, das war das richtige Wort. Es war fast unmenschlich, was Jeb da vollbracht hatte, und dass ihm die Anstrengung kaum anzusehen war, machte die Sache noch unglaublicher.
Warum tat Jeb Dinge, die andere nicht tun würden? Sie alle waren sofort bereit gewesen, Jenna im Stich zu lassen, aber nicht Jeb, der bereitwillig sein Leben riskierte, um ihres zu retten. Obwohl er sie nicht einmal kannte.
War Jeb überhaupt einer von ihnen? In der gleichen verzweifelten Lage wie sie? Oder machte er gemeinsame Sache mit wem oder was auch immer sie in diese fremde Welt verschleppt hatte?
Wenn man Jeb so ansah, wirkte er offen und freundlich, aber Tian hatte in diesen zwei Tagen genug erlebt, um zu wissen, dass sich das Böse sehr wohl hinter einem freundlichen Lächeln verbergen konnte. Was wusste er wirklich über all das hier?
Und die anderen?
Jenna war okay. Mary irgendwie auch. Mischa musste man einfach mögen, der Typ war unverwüstlich und strahlte selbst jetzt noch Lebensfreude aus. Und Kathy? Nun, sie konnte man aus vollem Herzen hassen. Rücksichtslos, gemein und dabei unheimlich clever, machte sie ihm aber vor allem Angst. Vor ihr würde er auf jeden Fall auf der Hut sein müssen.
Blieb noch León mit seinen seltsamen Tätowierungen. Aus ihm wurde Tian nicht schlau. Eigentlich war er der geborene Einzelkämpfer, trotzdem hatte er sich die letzten zwei Tage um die Gruppe gekümmert. Sie angeführt und dafür gesorgt, dass keiner zurückblieb.
Aber warum hatte er das getan?
Tian spürte, dass Leóns Verhalten jederzeit umschwingen konnte, dass bei ihm nichts sicher war.
So wie hier eigentlich gar nichts sicher ist.
Nur die Bilder, die vor seinen Augen auftauchten, wurden ihm immer vertrauter. Sie kehrten immer und immer wieder. Düstere Straßenschluchten, verzerrte graue Gesichter, immerwährender Schneefall. Er wusste mittlerweile, dass er niemals dort gewesen war – und doch kannte er die Umgebung und ahnte die Gefahr, die hinter jeder Ecke lauern konnte. Er wusste, dass jede Begegnung in dieser abstoßenden Welt einen Überlebenskampf bedeutete. Und was hatte es mit dem goldenen Engel auf sich? Er sah leere Augenhöhlen in einem fahlen Gesicht, eine verzerrte Fratze… und immer wieder ein schauerlicher Schrei, kurz bevor das Bild verschwamm und er nur noch Rot sah. Er drückte sich beide Handballen auf die Augen, um die furchtbaren Bilder zu vertreiben. Als er sie wieder öffnete, spürte er eine Bewegung in seinem Rücken. Er drehte sich um und sah, dass Kathy ihn aus der Ferne unverwandt anstarrte. In ihrem Blick lag etwas Lauerndes. Tian spürte, wie sich eine eisige Kälte über ihn legte.
Schon viel zu lange hing er in der Felswand. Schon viel zu lange tobte der Schmerz in seinem Körper, zog aus seinen Fingerspitzen in die Finger, dann in seine Hände und schließlich seine Arme hinauf. Sein Körper war komplett verspannt und schwierig zu manövrieren. Er verdrängte den Schmerz, der ihn schwach werden ließ. Dabei spürte er die ganze Zeit, wie ihm Blut aus der pochenden Platzwunde am Hinterkopf den Nacken hinunterlief.
Mischa ließ keuchend die Luft aus seinen Lungen entweichen, bevor er seine rechte Hand löste und sie langsam nach oben schob. Er fixierte den Stein unmittelbar vor sich, denn hier in der Wand gab es kaum mehr Gelegenheit, den Kopf nach hinten zu legen und den Fels hinaufzuschauen. Nein, er verließ sich vollkommen auf das Gefühl in seinen Händen und Füßen. So klebte er wie eine Eidechse am dunklen Gestein und kämpfte sich Zentimeter für Zentimeter nach oben.
In Mischas Innerem bildeten sich Worte. Er wusste nicht, woher diese Worte stammten, aber sie gaben ihm Trost. Vater unser, der du bist im Himmel...
Plötzlich löste sich Geröll von einem Vorsprung und sein linker Fuß rutschte ab, auf den er sein ganzes Gewicht gelegt hatte. Instinktiv krallte er beide Hände in den Fels und suchte verzweifelt neuen Halt für seinen Fuß. Unter seinen Füßen polterten Gesteinsbrocken in die Tiefe. Zitternd klebte er an der Wand. Verdammt, war das knapp gewesen.
Nach einem Schwall Adrenalin überkam ihn Verzweiflung. Er hing nur an seinen Fingerspitzen über dem Abgrund, er hatte keine Kraft mehr. Nur die verkrampfte Haltung seines Körpers schien ihn noch in der Luft zu halten.
Er wünschte sich Erlösung von seinen
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