Das Lachen der Hyänen: Thriller (German Edition)
schließen und zuhören. Die Töne schwirren in der Luft, tanzen. Wenn er spielt, möchte sie alles vergessen. Sie schließt die Augen. Ihr Körper wird leicht, schwerelos. Sie hebt ab, fliegt. Unter dem Dach liegen Strohballen. Bei jedem Schritt wirbelt sie Staub auf. Sie tanzt in einem weißen Ballkleid auf der Stelle im Kreis herum und dreht sich dabei immer geschwinder. Staub schimmert im Sonnenlicht. Alles verschwimmt. Nur die Musik ist so klar, dass sie glaubt, danach greifen zu können. Da ist er, in einem weißen Kommunionsanzug. Er nickt, lächelt, während seine Zahnspange funkelt wie die Sterne. Er wirft ihr einen Kussmund zu. Er trägt eine Vogelscheuche bei sich. Sie lacht, zeigt auf den Besenstiel, die löchrige Jacke, den alten Schlapphut. Sie tanzt immer noch schneller, immerzu im Kreis herum, bis das Kleid von ihr fliegt und am Dachbalken hängen bleibt, an einem rostigen Nagel. Er lacht. Die Vogelscheuche lacht ebenfalls und sagt, du siehst alt aus, hässlich, und um den Mund hast du einen bitteren Zug. Die Vogelscheuche sagt alt, nicht nackt. Sie sagt hässlich, nicht nackt. Und lacht kreischend, als wäre es Musik.
»Kitty, nicht so laut!«
Sie öffnet die Augen, sieht alles verwaschen. Überall verwackelte Bilder und so klein, als wäre die Welt nur Miniatur. Die Wohnung, die Zimmer, Küche, Bad. Ihr Vater, die Ärztin, Laura, Doreen, sie selbst, zusammengekauert vor dem Spiegelschrank auf dem Bett.
Sie zieht sich nackt aus und legt sich auf das Plumeau. Die Hände unter dem Hintern, den Körper ausgestreckt, die Muskeln angespannt. Sie spürt seine Fingerkuppen auf der Haut, im Gesicht, auf der Brust, am Bauch, am ganzen Körper. Jeder Ton eine Berührung. Cis, Gis, Dis. Jede Berührung ein Paukenschlag, der entspannt, löst. Eine Gänsehaut überzieht den Körper wie eine zweite Schicht. Eine Schlangenhaut. Es kitzelt, kribbelt. Sie lacht leise ins Kissen. Sie summt, singt, stöhnt. Sie steckt ihre Nase mitsamt dem Mund in einen seiner Schuhe, atmet ganz schnell ein, aus, ein, immer schneller, ein, aus, ein – und nicht mehr aus. Sie riecht ihn, seine Füße, die Beine, das Geschlecht, den Bauch, Brust, Gesicht. Sie schleckt an seinen salzigen Augenlidern, küsst den Leberfleck an der Wange und hält die Luft an. Bis sie um Nase und Mund ganz blau wird und die Töne flüstern hört. Willst du sterben oder leben, sterben oder leben.
Sie atmet aus und schreit: »Lieben!«
»Kitty, was ist denn?«
Ihr Vater klopft an die Tür.
»Nichts.«
Wenn sie an ihn denkt, weiß sie nicht mehr, was sie sagt. Die Worte verlassen unkontrolliert ihren Mund. Sie stammelt, redet in Halbsätzen, schüttelt den Kopf, nickt wahllos, ohne zu wissen, warum.
»Das ist Hajo«, sagt ihre Mutter. »Der Mann von Tante Margit.«
Sie setzt sich aufs Bett, die Schuhe im Schoß. Sie sieht sich selbst im Spiegelschrank. Das Gesicht blass, um die Augen schwarze Ringe, um den Mund einen bitteren Zug. Wie eine Vogelscheuche. Sie schneidet Grimassen, verstrubbelt sich die Haare.
»Mama hat heute wieder ihre Migräne«, sagt sie zu Hajo, der mit seinem Sportwagen auf den Hof fährt. Er sieht sie an, als käme er nicht wegen der Mutter, sondern ihretwegen.
»Wird schon wieder«, sagt Hajo. Er zieht die Schuhe aus und stellt sie in den Flur, neben den Fußabstreifer auf dem »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen« steht. Er geht ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter.
Sie bleibt zurück im Flur, neben dem Abstreifer, den Schuhen. Es sind Halbschuhe aus braunem Leder. Sie glänzen, sehen aus wie zwei Hundehaufen. Die Schnürsenkel hängen kraftlos herab. Die Absätze sind schief, nach außen hin ein wenig abgetreten. Sie hebt die Schuhe auf, verbirgt sie hinter ihrem Rücken, geht in ihr Zimmer und lässt die Tür nur angelehnt. Sie hört, wie er mit der Mutter spricht, die am Klavier sitzt und spielt. Der Drehstuhl quietscht, sie steht auf und lacht. Er küsst sie und setzt sich anschießend ans Klavier.
»Mach die Tür zu, Kitty.«
Ihr Vater öffnet die Tür, streckt den Kopf ins Zimmer.
»Alles in Ordnung?«
»Mach die Tür zu, bitte.«
Er schließt die Tür.
Sie huscht zur Wohnzimmertür, presst ihr Ohr ans Holz. Jetzt hört sie nur noch sein Spiel. Die Worte der Mutter dazwischen versteht sie nicht. Er spielt Chopin. Immer wieder Chopin. Sie zieht sich nackt aus und legt sich aufs Bett, die Hände in den Schuhen. Sie schließt die Augen und spürt seine Fingerkuppen. Auf der Haut, im Gesicht,
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